Leichtathletik:Die Last der Erwartungen

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Die Karriere des Hochspringers Tobias Potye steckt in einer kniffligen Phase. Er muss lernen, mit steigendem Druck zurechtzukommen

Von Andreas Liebmann

Zwei Meter zwanzig über dem Boden ruhte die Hochsprunglatte, Tobias Potye lief mit federnden Schritten an. Die Stimmung war gut in der umgebauten Messehalle in Karlsruhe, Potye schnellte nach oben, er überquerte die Stange sauber, doch dann riss er sie mit der Ferse herunter. "Ein typischer Fall, wenn der Bewegungsablauf nicht stimmt", sagt Potye. Zweiter Versuch - diesmal rannte er zu nah an die Latte. "Im dritten habe ich es nicht geschafft, beide Fehler zu beseitigen", erinnert er sich. Am Ende war Potye mit übersprungenen 2,15 Meter Vierter der deutschen Hallenmeisterschaften, höhengleich mit zwei anderen. "Irre", sagt er im Nachhinein, "wenn ich diese 2,20 schaffe, bin ich Zweiter!" Es wäre ein sehr versöhnlicher Abschluss einer wenig erfreulichen Hallensaison für den Münchner gewesen.

Deutscher Meister wurde der Leverkusener Mateusz Przybylko, der an diesem Tag die Norm für die Hallen-EM in Prag schaffte, 2,26 Meter. Das sind nur drei Zentimeter mehr als Potyes persönliche Bestleistung. Doch in Karlsruhe hatte Potye ganz andere Probleme. Im vergangenen Oktober hatte er sich einen Bänderriss im Knöchel zugezogen, die Nachwirkungen seiner Aufholjagd spürte er in den Wochen vor Karlsruhe in Form von muskulären Problemen. Ihm fehlten Sprünge, ihm fehlte Routine. Vor dem zweiten Versuch über 2,15 Meter hatte sich aus unerfindlichen Gründen seine Anlaufmarkierung verschoben, er musste trippeln, aus neun Schritten wurden 13. Dennoch packte er die Höhe. "Das war der alte Tobi, der seine Sprünge extrem variieren kann", sagt Potye zufrieden.

Der schlaksige junge Mann, 1,98 Meter lang, kurze, dunkelblonde Haare, Brille, ist U20-Europameister von 2013. "Prag wäre natürlich top gewesen", sagt er. "Andererseits" - nun blickt er sich um, durch die Scheibe des kleinen Besprechungsraums sieht man die beinahe leere Werner-von-Linde-Halle, draußen ist ein trüber Wintertag - "dann hätte ich ja noch zwei Wochen länger durchtrainieren müssen." An diesem Montag wird die Sommervorbereitung mit einem Trainingslager in Südafrika beginnen, es ist zugleich Potyes 20. Geburtstag. In der Halle werde sein Sport ohnehin oft belächelt, weil sehr unterschiedliche, teils schwingende Böden zu wenig aussagekräftigen Ergebnissen führen. Tobias Potye will nach vorne blicken. In den Sommer. Zur U23-EM in Tallinn. "Das ist mein festes Ziel", sagt er, "die Norm liegt bei 2,21 Meter." Durchaus machbar für ihn.

Tobias Potyes Karriere steckt gerade in einer merkwürdigen Phase. Bisher ging es meist rasant bergauf. 2014 wurde es kniffliger, doch dem enttäuschenden Abschneiden bei der U20-WM in Eugene ließ er kurz darauf beim renommierten Hochsprung-Meeting in Eberstadt 2,23 Meter folgen - Sieg im Juniorenfeld. Der Übergang von der Altersklasse U20 zur U23 gilt jedoch als schwierig, der Körper bei Männern verändere sich da noch ein wenig. "Ich werde den Teufel tun und jetzt eine Stagnation herbeireden", sagt Potye, andererseits sei noch niemand um einen Stillstand in diesem Alter herumgekommen. Außerdem hat er kürzlich den Verein gewechselt, vom FC Aschheim zur LG Stadtwerke, und das hat nun irgendwie auch zur Folge, dass er gerade Aktzeichnen übt, Aquarelle und Acrylbilder malt, mit Kreide, Kohle und Bleistift experimentiert. Potye hat bei der LG Stadtwerke nämlich ein Stipendium bekommen, dazu gehört ein Studium, und er hat sich nach einem Ausflug ins Umwelt-Ingenieurswesen nun für den Studiengang Kunst und Multimedia entschieden. Gerade erstellt er seine Bewerbungsmappe. Er sei eben "nicht so der Wissenschaftler", eher ein Kreativer; zur Vorbereitung hat er sich an einer Zeichenschule mit Perspektive beschäftigt, mit Farblehre. Natürlich habe er auch einen Hochspringer gezeichnet, aber nur einmal. "Ich habe Gott sei Dank noch andere Dinge im Kopf", sagt er.

Dabei ist das gar nicht einfach. Hochspringer müssen detailversessen sein. Ende Dezember wurden seine Sprünge zuletzt biomechanisch untersucht, mit mehreren Kameras wurden 3-D-Bilder erstellt, Schrittgeschwindigkeiten, Absprung- und Brückeninnenwinkel gemessen. Würde er allein letzteren optimieren, wären gleich wieder fünf bis zehn Zentimeter mehr Höhe möglich, referiert er. Die Ergebnisse waren in Ordnung, er hatte ja erst wieder zu springen begonnen. "So richtig weiß man bei keinem, was seine eigentliche Stärke ist." Dabei wüsste Potye das für sich selbst sehr gern. Ein "extrem schnelles Schwungbein" habe er, aber sonst? Es sei nicht mal ganz klar, wie viel Einfluss die Muskulatur habe, wie viel die Faszien oder das Bindegewebe. "Mein Trainer hat immer gesagt, dass ich im Kopf stark bin, aber das hat jetzt auch zweimal nicht hingehauen."

Tobias Potye wird von Manfred Knopp trainiert, immer schon. Das fing beim FC Aschheim an, als Potye zehn war. Er begleitete seinen Bruder, ebenfalls Hochspringer, ins Training, in dem Fußballklub gab es eine gute Trainingsgruppe für Sprint und Sprung. Der Verein unterstützte seine Leichtathleten nach Kräften, und Knopp bildete sich in dem Maß fort, in dem Potye besser wurde. "Wir sind zusammen gewachsen", sagt Potye. Er wisse noch, wie Knopp anfing, "alte Lehrbücher rauszuziehen". Er hat seinen Trainer mitgenommen zur LG Stadtwerke. Knopp ist gerade in Rente gegangen, er hat Zeit.

Potye hatte sich selbst um den Wechsel bemüht, wegen besserer Trainingsmöglichkeiten und wegen dieses Stipendiums. "Das lag schon seit meinen Erfolgen 2013 in der Luft, aber die LG hat mich nicht angesprochen, das fand ich sehr okay." Bei Wettkämpfen habe es ihn allerdings häufig genervt, wenn Konkurrenten von "riesen Prämienkatalogen" erzählten, "und ich habe dann jeden Wettkampf gewonnen". Die Aussicht darauf, am Monatsende eine Unterstützung vom Verein zu bekommen, sei schon wichtig (siehe Kasten). Noch wohnt Potye in Aschheim, bald will er in die Nähe des Olympiazentrums ziehen, um all die Vorteile der großen Leichtathletik-Gemeinschaft besser zu nutzen, von den Trainingsmöglichkeiten bis zur Physiotherapie und den nahen Schwimmbädern.

Die Höhe der finanziellen Förderung ist leistungsbezogen, das war nur ein Grund, weshalb Potye trotz langer Verletzungspause gleich möglichst viel zeigen wollte. "Die Erwartungen hier waren groß, dass jetzt auch im Hochsprung einer Titel holt", sagt Potye. Viele Stadtwerke-Athleten kannten ihn, als er ankam, viel mehr als er gekannt habe. "Ich weiß nicht, inwieweit mich das Stipendium unter Druck gesetzt hat", sagt er, "meine Eltern meinen, ich hätte krampfhaft versucht, Topleistungen zu bringen." Eigentlich weiß er sehr genau, dass sie recht haben. "Das muss jetzt aufhören", hat er beschlossen. Das ist seine Lehre aus der Hallensaison: "Ich werde nie wieder versuchen, Bäume auszureißen, wenn ich weiß, dass es eigentlich gar nicht geht."

Die U20-Weltmeisterschaft in Eugene vor knapp acht Monaten war seine erste große Druck-Erfahrung. Zwei Wochen vorher war er bereits angereist, viel Zeit, um den Jetlag zu überwinden und sich ans Klima zu gewöhnen. Doch dann lasteten von allen Seiten große Erwartungen auf den Hochspringern, speziell auf dem Europameister. "Daran muss ich mich unbedingt gewöhnen", sagt er nachdenklich. "Es fing schon damit an, dass plötzlich die Physiotherapeuten Fotos mit uns machen wollten." Über 2,17 Meter kam er nicht hinaus, Platz neun. "Im Nachhinein war das verdammt stark", findet er, "weil an diesem Tag überhaupt nichts funktioniert hat."

Potye ist äußerst ehrgeizig. "Ich fahre nicht zu einem Wettkampf, um Letzter zu werden", sagt er. Schon als Grundschüler hatte er einmal mit der Leichtathletik angefangen, aber nach wenigen Wochen die Lust daran verloren. "Ich war ja immer der Schnellste und der, der am weitesten gesprungen ist. Und plötzlich musste ich feststellen, dass es da auch andere gab."

Zum neuen Manager der LG Stadtwerke München, Christian Gadenne, hat Potye übrigens eine besondere Verbindung. Gadenne war früher Pressesprecher der FC-Bayern-Basketballer, mit ihm kann er sich ausdauernd über Basketball unterhalten. Auch in Karlsruhe haben sie das wieder getan. Wenn er mal Zeit hat, macht Potye nämlich gerne Dunkings aus der NBA nach. Nicht wie andere an der Spielekonsole, sondern mit dem Ball an der Hand. Erst kürzlich habe er einen three-sixty geschafft, erzählt er, bei dem man den Ball erst nach einer vollen 360-Grad-Drehung um die eigene Achse in den Korb stopft. Seine Augen leuchten, aber er will nicht angeben. "Ich gebe ja zu, dass ich dafür auch besonders gute Voraussetzungen habe."

© SZ vom 14.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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