Soziales Engagement:Alles für Anna

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Juliane Staltmaier hat vor Jahren ein Mädchen aus Kaliningrad adoptiert. Seitdem kümmert sie sich um Waisenhäuser in dieser Region, sogar ein Frauenhaus hat sie dort gegründet. An diesem Mittwoch zeichnet Ministerin Beate Merk die Münchnerin mit der Europa-Medaille aus

Von Sabine Buchwald

Seit zwölf Jahren ist Anna in München. Sie kam als Kindergartenkind, demnächst wird sie ihren 17. Geburtstag feiern. "Wir haben Anna gefunden, als sie viereinhalb war", sagt Juliane Staltmaier. Gefunden. In einem russischen Waisenhaus. Sie und ihr Mann hatten lang nach ihr gesucht, nach einem Mädchen, nach einer Schwester für Moritz, ihren Sohn. Anna hat das Leben der drei verändert.

Es ist nicht nur Anna allein, es ist ihre Herkunft, die Juliane Staltmaier, 61, zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hat. Inzwischen war sie 20 Mal in Kaliningrad, um Kindern wie Anna zu helfen. Kinder, die in einem Heim leben. Für dieses Engagement bekommt Juliane Staltmaier diesen Mittwoch die "Medaille um besondere Verdienste um Bayern in einem Vereinten Europa". Senta Berger und Christian Springer werden mit dieser Europa-Medaille genannten Auszeichnung ebenfalls geehrt. Was für Staltmaier viel mehr zählt, ist Anna und das "Projekt Anna", ihr Verein, mit dem sie Spenden sammelt für die sieben Heime, die sie unterstützt und die Suppenküche, die TBC-Kranken, die Sommercamp-Ferienplätze, die Fortbildungen für Erzieher, das Mutter-Kind-Haus. Eines von drei Mutter-Kind-Häusern in Russland überhaupt, sagt Staltmaier. Sie ist stolz darauf, es war ihre Idee, mit ihrem Geld wurde es umgebaut und eingerichtet. Sieben Frauen und ihre Kinder wohnen derzeit dort geschützt vor ihren Männern.

Dieses Bild entstand vor wenigen Tagen, als Juliane Staltmaier Kinderheime und andere Projekte in Kaliningrad besuchte. (Foto: Johannes Krüger/oh)

Um die Geschichte des "Projekts Anna" zu erzählen, muss man bis ins Jahr 1998 zurückgehen. Die Staltmaiers sind geprüfte Pflegeeltern, aber sie möchten gerne ein Kind adoptieren. Sie füllen Formulare aus, geben Auskunft über ihre Wohnsituation, ihre Vermögensverhältnisse, dürfen sagen, wie ihr Wunschkind aussehen soll. "Haarfarbe, Herkunft, das war uns alles nicht wichtig", sagt Juliane Staltmaier. Nur ein Mädchen sollte es sein. Sie fragen in Deutschland nach. Glauben sich schon fast am Ziel. Hören dann, dass das angebotene Kind in eine andere Familie kommen soll. Die Enttäuschung ist groß. Sie sehen sich im Ausland um, machen Workshops für eine Auslandsadoption mit. Im Januar 2003 schließlich erfahren sie von Anna. Anna ist schon vier Jahre alt, spricht nicht, kann kaum alleine essen. Egal. "Das wird schon werden, wenn sie erst bei uns ist", sagen sich die Staltmaiers.

"Wir sind sehr froh, dass Anna bei uns ist": Juliane Staltmaier. (Foto: Robert Haas)

Ende Februar können sie das russische Mädchen nach München holen, in ihre Altbauwohnung in Schwabing. "Wir waren alle drei in einem emotionalen Ausnahmezustand", sagt Juliane Staltmaier. Anna gibt nur Laute von sich, um sich verständlich zu machen. Sie liebt Obst, aber ihre Kiefermuskeln sind verkümmert. Niemand hat sich die Zeit genommen, mit ihr sprechen und essen zu üben. Juliane Staltmaier erzählt, wie sie Anna immer wieder das Wort Banane vorsagt. Ba-na-ne, Ba-na-ne. "Da haben Sie sich ja was angetan", sagt die Kinderärztin, als sie Anna untersucht. Anna ist ein bisschen zarter als andere Kinder ihres Alters. "Aber man hat ja die Hoffnung, dass sich das alles gibt", sagt Staltmaier.

Sie ist eine zupackende Frau. Eloquent, herzlich. Typ Barbara Stamm auf Münchnerisch. Sie hat Durchhaltevermögen, sonst wäre Anna heute nicht in München. Ob sie je schreiben und lesen gelernt hätte? Juliane Staltmaier bezweifelt das. Ihre Schwester hat ein Zuhause bei einer russischen Bauernfamilie gefunden. Die habe keine Auffälligkeiten, sagt Staltmaier. "Kinder mit Defiziten gehen ins Ausland zur Adoption", glaubt sie heute. Das war ihr damals nicht klar. Aber sie ist sehr froh, dass Anna bei ihnen ist.

Anna geht mit ihren fast 17 Jahren in die neunte Klasse einer Förderschule. Sie schafft es inzwischen, allein mit der U-Bahn quer durch die Stadt zu fahren. "Meine Aufgabe ist es, das Optimale für Annas Leben zu erreichen", sagt Staltmaier. Sie hofft, dass ihre Tochter die Zukunft eigenständig meistern wird. Wenn sie und ihr Mann einmal nicht mehr da sind.

Mit Anna ist 2004 das "Projekt Anna" entstanden, seit 2006 mit dem Spenden-Siegel DZI zertifiziert. Vor wenigen Tagen ist Juliane Staltmaier von einer Reise aus Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg, zurückgekommen. Beim Hinflug hatte sie Kaffee und Süßigkeiten für die Heimleiterinnen dabei. Für drei Kilo Übergepäck musste sie 50 Euro draufzahlen. Das ärgert sie, es ist verlorenes Geld. Eine Woche lang fuhr sie mit dem Auto und zwei Helfern, die für sie dolmetschten, von Heim zu Heim. Diesmal hat sie eines besucht, in dem behinderte Kinder leben. Dort gebe es einen Engpass an Windeln, erzählt Staltmaier. Die staatliche Lieferung kommt nicht. Also ist sie losgezogen und hat alle Packungen in großen Größen gekauft, die sie bekommen konnte.

Seit dem Ukraine-Konflikt tut sie sich schwer, Spender zu aktivieren. An Hilfe für Russland denken im Moment nur wenige Menschen. Die Sängerin Anna Netrebko firmiert zwar als Schirmherrin, aber sie kümmert sich nicht wirklich um das Projekt. "Gerade jetzt aber werde ich noch mehr tun", sagt Staltmaier, "weil die Situation in Russland wieder schlechter wird." Die Lebensmittel seien um 15 bis 20 Prozent teurer geworden. Diesmal hat die Sozialministerin der Region Staltmaier empfangen. "Wir sind ein Aushängeschild, weil wir immer noch tätig sind", sagt sie. Die beiden Frauen haben überlegt, wie sie die Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Kaliningrad nutzen können. Die Welt wird dem fröhlichen Spektakel zuschauen, wohl aber auch wegschauen, wo es Traurigkeit gibt.

© SZ vom 06.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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