Prozess um Kriegsverbrechen:"Jetzt werden wir alle umgebracht"

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Der einzige Überlebende des Massakers deutscher Soldaten an italienischen Zivilisten hat als Zeuge ausgesagt - während der Angeklagte an einem Bonbon lutschte.

A. Krug

Es ist die eindringliche Bitte eines Menschen, ihn doch endlich zur Ruhe kommen zu lassen. Sechs Mal hat Gino M. im Laufe der Jahre über das schlimmste Ereignis seines Lebens aussagen müssen. Sechs Mal hat er wiederholen müssen, wie damals im Juni 1944 in der Toskana seine Nachbarn neben ihm unter den Trümmern des von deutschen Soldaten gesprengten Hauses qualvoll starben.

Keine Rachegefühle: Gino M., heute 79 Jahre alt, wurde 1944 unter den Trümmern eines Hauses begraben, das von deutschen Soldaten als Vergeltung für einen Partisanenüberfall gesprengt wurde. (Foto: Foto: Robert Haas)

Und wie er als Einziger überlebte. "Ich möchte mit diesem Kapitel in meinem Leben abschließen", lautet am Dienstag sein dramatischer Appell vor dem Schwurgericht.

Gino M. ist extra aus Italien angereist, um hier seine insgesamt sechste Aussage im Prozess gegen den wegen des Massakers an 14 italienischen Zivilisten angeklagten ehemaligen Leutnants Josef S., 90, zu machen. Er soll an jenem 27. Juni 1944 nach einem Partisanenüberfall mit zwei toten deutschen Soldaten den Befehl zur Vergeltung gegeben haben. Gino M. ist elf Jahre jünger als der Angeklagte.

Damals war der Bauernjunge gerade 15 Jahre alt geworden. Am Morgen habe er Schüsse gehört und sei "aus Neugierde" in Richtung des Gewehrfeuers gelaufen. Das war sein Verhängnis. Denn er lief mitten in eine Einheit ausgeschwärmter deutscher Soldaten, die nach Gefangenen suchten. Gino M. versuchte noch zu fliehen, doch nach Warnschüssen ließ er sich zu Boden fallen und festnehmen.

Ich war noch ein Kind

Danach musste der völlig verängstigte Gino M. mit anderen zufällig erwischten Zivilisten zu einem Sammelplatz nahe Falzano di Cortona marschieren. Unterwegs habe ein Mitgefangener sie noch zu beruhigen versucht und gesagt, man bringe sie sicherlich zum Arbeiten nach Deutschland. Doch am Sammelplatz sei dann ein Krad mit Beiwagen vorgefahren. Ein Soldat, vermutlich ein Offizier, habe "herumgebrüllt und alle standen still. Ich hatte solche Angst. Ich habe nur noch gezittert." Weder seien sie verhört worden, noch habe jemand etwas über mögliche Partisanen wissen wollen.

Nach etwa 20 Minuten sei ihre Gruppe in ein Haus geführt worden. Zuvor habe er noch gesehen, wie Männer in Zivilkleidung - vermutlich zwangsverpflichtete Italiener - große Kisten in das Obergeschoss schleppten. "Ich wusste nicht, dass das Sprengstoff war", sagt Gino M. "Ich war doch noch ein Kind." Er sei "als letzter" der Gruppe von den Soldaten ins Haus gestoßen worden. Ein vor ihm gehender Mann habe sich retten können, indem er sich als deutschstämmig zu erkennen gab. Als die Tür verschlossen wurde, sagte einer: "Jetzt werden wir alle umgebracht."

Bis zur Detonation habe es noch fünf Minuten gedauert. Er habe sich in eine Ecke gekauert, "und dann kam die Sprengung". Gino M. wurde unter einem herabstürzenden Balken begraben, auch andere lebten noch. In das Schreien und Stöhnen der Männer hinein feuerten die Soldaten "zwei bis drei Maschinengewehrsalven". Dann war Ruhe. "Ich denke, sie sind abgezogen, als sie keine Klagen mehr hörten", sagt Gino M. Ein Mann, der direkt über ihm lag, sei unter der Trümmerlast qualvoll erstickt. Er selbst habe immer wieder das Bewusstsein verloren.

Nach etwa einer Stunde sei eine Bäuerin gekommen und habe ihn mit Hilfe ihres Sohnes aus den Trümmern gezogen. Die schweren Verbrennungen und Wirbelschäden fesselten Gino M. monatelang ans Bett. Noch heute muss er manchmal ein Stützkorsett anlegen, seine Frau muss ihm mitunter beim morgendlichen Aufstehen helfen.

Aber Klagen kommen ihm nicht über die Lippen. "Ich fühle mich wohl", sagt er. In sein Innerstes lässt er niemanden blicken, die Traumata sind nur zu erahnen, wenn er leise sagt: "Es wäre besser gewesen, sie hätten uns alle an Ort und Stelle erschossen."

Rache ist Gino M. fremd. Er habe den Deutschen verziehen, hatte er unlängst in einem SZ-Interview erklärt. Und: "Ich will diese furchtbaren Momente einfach vergessen." Im Gerichtssaal erzählt Gino M. nun, dass ein Sohn von ihm in Deutschland lebe und er "hier wunderbare Menschen kennen gelernt" habe.

Den Angeklagten zählt er dazu wohl nicht. Der verfolgt die Aussage des Zeugen mit versteinerter Miene von der Anklagebank aus, manchmal lutscht er auch an einem Bonbon. Als der Richter die beiden alten Männer an seinen Tisch bittet, um ihnen alte Kriegsfotos vorzulegen, stehen sie dicht an dicht ohne ein Wort miteinander zu wechseln.

Der Richter fragt, ob Gino M. auf den alten Aufnahmen von deutschen Soldaten jemanden erkenne. "Nein", erwidert der. Josef S. schaut sich die Fotos mit einer großen Lupe genau an, ihm geht es dabei vor allem um Uniformen und Mützen.

Er hat bislang jede Beteiligung an dem Kriegsverbrechen bestritten. Seine Verteidiger argumentieren, dass es sich um eine Verwechslung handeln müsse und verweisen immer wieder auf angeblich falsch zugeordnete Uniformen. Ob sie damit Erfolg haben, wird sich zeigen. Der Prozess wird nächsten Montag fortgesetzt. Dann soll ein weiterer ehemaliger Angehöriger des Gebirgs-Pionier-Bataillons 818 aussagen.

© SZ vom 08.10.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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