Praxisunterricht:Lektionen im Café

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Lehrer Kurt Daschner erklärt seinen Schülerinnen den Umgang mit einer Profi-Kaffeemaschine. (Foto: Matthias Ferdinand Döring)

Kochen für die Mitschüler, Mülltonnen auf Bestellung oder Kurse für Senioren: In sogenannten Produktionsfirmen bereiten sich Jugendliche ohne Ausbildungsplatz auf den Einstieg ins Berufsleben vor

Von Melanie Staudinger

Selina hat sich schon in ihre dicke Jacke eingepackt, in der einen Hand hält sie einen Einkaufszettel fest, in der anderen einen Stoffbeutel. Doch Lehrer Boris Neumann ruft die Schülerin noch einmal zurück und gibt ihr ein zweites Blatt Papier. "Das ist die Bestätigung, dass du für die Schule einkaufen gehst, falls du von der Polizei kontrolliert wirst", sagt er. Selina nickt. "Hast du die Telefonnummer von hier?", fragt Neumann und bekommt als Antwort ein weiteres Nicken. "Und falls du im Laden eine Frage hast, können auch die Verkäuferinnen helfen." Neumann spricht ruhig mit seinen Schülerinnen und gibt sehr konkrete Anweisungen. Sechs Mädchen und junge Frauen unterrichtet er heute in der Cafeteria des Pädagogischen Instituts der Stadt. Sie sind nicht freiwillig hier, sondern müssen ihre Berufsschulpflicht erfüllen, weil sie nach der Mittelschule keine Lehrstelle gefunden haben. Ihr Alltag sieht für neun Wochen am Stück so aus: Vier Tage in der Woche besuchen die Schülerinnen die Berufsschule zur Berufsvorbereitung am Bogenhauser Kirchplatz, an einem Tag sind sie in der Cafeteria an der Herrnstraße. Hier kümmern sie sich mit den Lehrern Boris Neumann und Kurt Daschner um den gesamten Betrieb. Sie kontrollieren die Anlieferung der Produkte aus biologischem Anbau, kochen ein Mittagsgericht für bis zu 80 Esser, bereiten das Salatbuffet vor, schenken Kaffee und andere Getränke aus, putzen Küche und Gastraum und gehen auch mal einkaufen, wenn eine Zutat fehlt. Von 8.30 bis 16.30 Uhr geht die Schicht - und sie beginnt mit einem gemeinsamen Frühstück. Das soll das Teamgefühl bei den Mädchen stärken, die sich in der Vergangenheit eher vernachlässigt und alleine vorgekommen sind, denen es schwer fällt, Verantwortung für andere übernehmen.

Während Selina einkauft, kümmert sich Elisa um die Salate. Kohlrabi und Karotten müssen gesäubert, geschält und zerkleinert werden. Danach sollen die jungen Frauen, die ihre richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen wollen, Rindergulasch mit Reis zubereiten. Damit sie wissen, wie viele Portionen sie brauchen, ziehen zwei von ihnen von Raum zu Raum und fragen die Fortbildungsteilnehmer, wer von ihnen zum Mittagessen kommt. "Das kostet einige besonders am Anfang natürlich Überwindung", sagt Neumann. Doch auch darum geht es: Die Schülerinnen sollen an und über ihre Grenzen gehen.

Bewusst treten die Lehrer hier nicht als Mahner und Maßregler auf, sondern arbeiten Seite an Seite mit den jungen Frauen. "Wir wollen ihnen Orientierung geben und gleichzeitig Tugenden wie Pünktlichkeit, und Sauberkeit mitgeben", sagt Daschner. Dabei sehen sich die Lehrer mit einer großen Herausforderung konfrontiert: Ihr Klientel braucht klare Regeln, gleichzeitig aber auch Wertschätzung und Eigenverantwortung - ein täglicher Spagat.

"Produktorientierter Ansatz" nennt sich das Projekt offiziell, das auf einen Stadtratsbeschluss aus dem Jahr 1997 zurückgeht und heuer sein 20-jähriges Bestehen feiert. Im Alltag nennen sich die Einheiten wie die Truppe, die das "PI Café" betreibt, Produktionsfirmen. Bei städtischen Mitarbeitern sind sie sehr bekannt, denn die Angebote der Berufsschulen wenden sich fast ausschließlich an sie, damit sie keine Konkurrenz zu privaten Unternehmen darstellen. Das "PI Café" ist eine von knapp 20 Produktionsfirmen, die es an 14 städtischen Berufsschulen gibt.

In diesen kleinen Unternehmen bieten die Schüler verschiedene Produkte oder Dienstleistungen an und üben so für ihr späteres Berufsleben. Im "SOS Shop" verkaufen Schüler der Berufsschule Mitte für den Einzelhandel Schreibwaren, an der Berufsschule für Druck und Mediengestaltung werden Weihnachtskarten, Flyer und Broschüren hergestellt. An der Berufsschule für Farbe und Gestaltung übernehmen Schüler Malerarbeiten, die Greenhoppers der Berufsschule für Gartenbau, Floristik und Vermessungstechnik binden Einzelsträuße und dekorieren ganze Räume. Und die Berufsschule für Sozialpflege bietet vier wöchentliche Seniorenprogramme für die Rentner des Viertels an - EDV, Kreatives, Gymnastik und Kulinarisches.

Die schuleigenen Firmen gehören längst zum Alltag. Vor 20 Jahren hat der Stadtrat diese berufsvorbereitende Maßnahme eingeführt, um Jugendliche ohne Ausbildungsvertrag besser zu unterstützen und sie vor einer ungewissen Zukunft zu bewahren. Damals nannte man das salopp "Benachteiligtenförderung", ein Wort, das den Verantwortlichen heute so nicht mehr über die Lippen kommt. Zielgruppe waren anfangs die Jugendlichen in den Berufsvorbereitungsklassen: Die Schüler sollten nicht nur Theorieunterricht erhalten, sondern auch Praxiserfahrung sammeln. Zudem sollten sie den Ernstfall proben und nicht das Gefühl haben, sie produzierten für den Mülleimer. "Die Produktionsfirmen bieten die wunderbare Gelegenheit, in einem geschützten Rahmen für das Berufsleben zu üben und gleichzeitig mehr Selbstbewusstsein zu tanken", sagt Stadtschulrätin Beatrix Zurek (SPD).

Eine Pädagogin, die von Anfang an dabei war, ist Gertrud von Reuss. Die Lehrerin leitet heute die Berufsschule zur Berufsvorbereitung und damit eine sehr wichtige, aber nicht ganz einfach zu führende Bildungseinrichtung. Jährlich gehen hier bis zu 1600 Jugendliche zur Schule, von denen viele gemeinhin als schwierig gelten. Sie haben keinen Ausbildungsplatz gefunden, haben eine Berufsausbildung abgebrochen, wollen den Mittelschulabschluss nachholen, haben zu große Wissenslücken oder sprechen so wenig Deutsch, dass sie Unterstützung beim Erwerb der beruflichen Fachsprache brauchen. Einige von ihnen sind vom Gymnasium über die Realschule immer weiter nach unten durchgereicht worden. Andere können schon seit Jahren dem Unterricht nicht mehr folgen und haben sich aufgegeben. Fast allen gemeinsam sind schlechte Erfahrungen in einem Schulsystem, das sie bisher nicht auffangen konnte.

Die Schule am Boki, wie die Einrichtung fast schon liebevoll genannt wird, ist daher nicht primär nur für die Wissensvermittlung zuständig. "Die Jugendlichen sollen bei uns neue Erfahrungen sammeln", sagt Reuss. Sozialarbeiter kümmern sich um die persönlichen Probleme oder suchen geeignete Initiativen, die die jungen Menschen unterstützen. Der Unterricht richtet sich nicht nach einem starren Lehrplan, die Lehrer gehen auf die Bedürfnisse und den Stand der jeweiligen Schüler ein. Berufsberater helfen bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Und bis das klappt, lernen die Schüler die Praxis in den Produktionsfirmen kennen. Sechs Abteilungen unterhält die Schule derzeit: Im Metallbereich etwa fertigen die Schüler auf Bestellung Mülltonnen an. Der Pavillon auf dem Schulgelände dient als Werkstatt. Städtische Bedienstete können dort auch ihre Fahrräder reparieren lassen. In der Schreinerei produzieren Schüler Holzartikel wie Flaschenöffner, Salz- und Pfefferstreuer und Küchenkräuterständer. Neben dem PI Café gibt es zudem das Gastro-Team, das das Catering bei Veranstaltungen übernimmt. Und die pädagogische Farm bietet eine eigene Schülerbaustelle, auf der junge Männer sich in ihren Baukünsten üben können.

Dass im PI Café derzeit nur junge Frauen arbeiten, ist kein Zufall. In der Schule am Boki sind die Klassen grundsätzlich nach Geschlechtern getrennt. "Das puffert das Spannungsfeld, in dem die Jugendlichen stehen, ein bisschen ab", sagt Lehrer Boris Neumann. Das Ziel wiederum ist bei jungen Männern wie Frauen das gleiche: Sie sollen endlich eine Chance im Leben bekommen. Denn selbst in einer Stadt wie München, in der es eigentlich genügend Arbeitsplätze gibt, wird es für Menschen ohne Quali und praktische Erfahrung sehr schwer.

© SZ vom 10.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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