Porträt:Gipfelsammlerin

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Alix von Melle ist wohl der untypischste Vollblut-Bergfex südlich der Donau. Die erfolgreichste Höhenbergsteigerin Deutschlands hat sechs Achttausender bestiegen, fünf davon mit ihrem Ehemann. Darüber hat sie nun ein Buch geschrieben

Von Dominik Prantl

Alix von Melle stand also vor der Kältekammer ihres Sporthauses; sie war ja damals schon Pressesprecherin des Globetrotter in München, der manchmal mehr wie eine Erlebniswelt als wie eine bloße Kauffläche wirkt, und sie schaute sich das Treiben von außen an. Der Abend samt Eröffnungsfeier kippte gerade auf den 6. März 2011, und drinnen, so hält sich die Legende, ging bei 25 Grad unter Null die Post ab. Und während sich die Geschäftsführer mitsamt ihren wichtigsten Kunden und Gästen nach guter Filialeröffnungstradition ihre Kältekammer-gekühlten Verkäuferseelen mit Wodka wärmten, behielt sie selbst den Überblick. Denn so sehr sie auch den Winter und die Minustemperaturen mag: "Ich trinke vielleicht einmal im Jahr eine Weinschorle."

Geschadet hat ihr die Abstinenz eher nicht. Hartnäckig hält sich ja das Klischee von kantigen Bergsteigern mit Schädeln wie Steilwände, gefurcht von Rissen, manchmal abweisend und kalt, dass man gerne einmal wissen würde, was sich darunter eigentlich verbirgt, oder vielleicht auch lieber nicht. Alix von Melle wiederum eröffnet das Treffen in einem Münchner Café mit einem offensiven Lachen, das nichts Aufgesetztes und kein Misstrauen trägt. Sie hat auch mit 44 Jahren noch immer diesen geradezu mädchenhaften Ausdruck im Gesicht, wenn sie Dinge sagt wie: "Ich war heute Morgen beim Yoga. Das ist für den Kopf so gut, da kann gar nichts mehr schiefgehen mit dem Tag."

Unter den Vollblut-Bergfexen südlich der Donau gehört von Melle zu den untypischen. Das liegt nur zum Teil daran, dass die Alkohol- und Fleischverächterin jede Yogastunde dem Kältekammer-Umtrunk vorzieht, oder dass sie als Frau trotz aller Emanzipationsversuche im Spitzenalpinismus ähnlichen Seltenheitswert hat wie männliche Profi-Synchronschwimmer. Es ist auch ihr Lebenslauf: Ihre Wurzeln liegen nicht in einem dieser Griaß-Enk-Täler, wo die Kinder am Grat laufen und am Gipfel sprechen lernen, sondern in der norddeutschen Moin-moin-Gesellschaft, deren Überbleibsel im Sprachrhythmus auch nach zwei Jahrzehnten in der bayerischen Diaspora noch zu hören sind. Im Grunde kann man von Melle als Hinweis darauf sehen, wie sehr das oft als qualvoll beschriebene Höhenbergsteigen in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. 1971 in Hamburg als Dritte einer Viererbande geboren, groß geworden in Schleswig-Holstein, war ihr Interesse am Bergsport - abgesehen von den Skiurlauben mit den Eltern - gleich null. Sie denke gerne an die Zeit dort oben, also im Norden, zurück. "Liebevoll aufgewachsen, gut behütet in einer kinderreichen Familie", beschreibt sie ihre Kindheit. Die Schule bewältigte sie mit mehr Fleiß als Talent, "Sport habe ich damals wenig gemacht". Ihr Interesse galt eher den Büchern, die sich in der Wohnung der Eltern stapelten, und der Musik. Ganz abgeschliffen hat sich die frühe Prägung nicht: So ist ihre größte Angst während der Schlechtwetterphasen auf Expedition, dass ihr der Lesestoff ausgeht, und in den Hochlagern hört sie auch heute noch gerne ein bisschen klassische Musik im Schlafsack. Mit ihrem Violinenspiel verdiente sie sich im Orchester einst ja sogar das Taschengeld für den Skiurlaub. Ihr Geigenlehrer habe sie einmal einen "profihaften Amateur" genannt.

Im Bergsport, wo es als Spätberufene auch mehr Fleiß als Talent braucht, hat sie es noch weiter geschafft. Dabei lockte sie erst ein Studium der Geografie Anfang der Neunziger nach München und schließlich weiter in die Alpen. War in den Bergen bis dahin die Skipiste ihre Wohlfühlzone gewesen, weitete sie ihren Radius mit Freundinnen sehr bald aus: Auf Skitouren abseits der planen Schneisen, beim Klettern im Wilden Kaiser, auf Touren an Mönch-Nordostwand und Palü-Ostpfeiler. "Oft waren wir nicht gerade die schnellste Seilschaft."

Vor allem aber lernte sie Luis Stitzinger kennen, einen Bergführeranwärter und Wohlfühlzonenerweiterer; und das nicht nur am Berg. Seit 17 Jahren sind sie auch privat eine Seilschaft, gemeinsam stiegen sie in der deutschen Alpinismus-Hierarchie nach oben. Stitzinger, der als Allgäuer eher einen klassischen Bergsteiger-Lebenslauf hinlegte, ohne die alten Klischees zu erfüllen, wurde Expeditionsleiter bei den Reiseveranstaltern DAV Summit Club und später Amical Alpin. Er fährt Berge mit Skiern hinab, die andere nicht einmal mit Seil und Flaschensauerstoff hochkämen. An seiner Seite wurde Alix von Melle zur erfolgreichsten Höhenbergsteigerin Deutschlands.

Dabei dachte die sich vor ihrer ersten außereuropäischen Bergreise an den Aconcagua in Südamerika 1998 noch: "Die Alpen sind mir eigentlich Spielwiese genug." Als sie jedoch merkte, wie gut sie mit der Höhe zurecht kam, erweiterte sie ihre Gipfelsammlung immer häufiger mit Prachtexemplaren rund um den Globus, dem Denali, dem Ama Dablam, und schließlich mit jenen Riesen, auf denen ihre Reputation basiert: sechs Achttausendern. Und obwohl sie im vergangenen Jahr "richtig krank wurde" (von Melle) und wegen eines Lungenödems am Makalu (8485 m) umdrehen musste, kommt sie nicht mehr von den hohen Bergen los. "Nirgendwo gelingt mir das Abschalten besser", sagt sie. Essen, schlafen, trinken, bergsteigen, der Tagesablauf stellt sich von selbst auf. Es ist diese Reduktion, die ihr gefällt. "Da kann ich den Luxus danach viel mehr genießen."

Alix von Melle stammt aus Hamburg und interessierte sich zunächst eher für Bücher. Ein Studium der Geografie lockte sie nach München und in die Alpen. (Foto: www.goclimbamountain.de)

Im Laufe der Zeit realisierte das Bergsteigerpaar auch, dass sich ihre risikoreiche Passion nicht mit Kindern vereinbaren lässt. "Alles Glück der Welt ist nun mal nicht möglich. Bei einigen steht die Karriere ganz oben, bei anderen sind es Kinder, bei uns sind es die Berge", sagt von Melle. Sie pendelt nun zwischen dem gemeinsamen Wohnort Füssen, der Heimat ihres Mannes Luis, und ihrer Halbtagsstelle in München, bewegt sich an der Schnittstelle zwischen berufstätigem Halb - und durchorganisiertem Vollprofi. Zu diesem Leben zählen neben rund 150 Tagen am Berg auch Trainingsalltag, Sponsorentermine, Vorträge. Mit dem kürzlich erschienenen Buch "Leidenschaft fürs Leben" haben die beiden auch die für Alpinisten inzwischen fast obligatorische Autobiografie veröffentlicht, eine sehr brave, der ein bisschen das Steilwandschädelige fehlt. Aber eines ist das Buch damit auf alle Fälle: authentisch.

© SZ vom 11.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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