Palliativmedizin:"Sterben ist nicht das Ende"

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Den Patienten der Palliativmedizin in Großhadern bleiben nur wenige Tage. Psychologe Martin Fegg erforscht hier den Sinn des Lebens, um Todkranken ein würdevolles Leben bis zuletzt zu ermöglichen.

Anna Fischhaber

"Mein Leben hat keinen Sinn mehr, ich möchte sterben." Diesen Satz hört Martin Fegg oft von seinen Patienten. Dabei bleiben vielen nur wenige Tage, wenn sie ins Zentrum für Palliativmedizin am Klinikum Großhadern kommen. Die Station ist so etwas wie ein Refugium in dem grauen Klinikum: Die Möbel sind aus hellem Holz, die Wände leuchten in warmen Gelbtönen, kleine Schmetterlinge zieren sie. Im Raum der Stille werden Monat für Monat die Toten verabschiedet, in einem Korb liegen Papiersterne mit den Namen der Verstorbenen.

Der Münchner Psychologe Martin Fegg, 35, arbeitet am Zentrum für Palliativmedizin in Großhadern. (Foto: Foto: oh)

Hier erzählt der Münchner Psychologe, Philosoph und Humanbiologe Martin Fegg von der schwierigen Suche nach dem Sinn des Lebens, die seit Jahrtausenden die Philosophie beschäftigt. Der 35-Jährige, fast zwei Meter groß, hat eine Methode entwickelt, um todkranken Patienten ein sinnerfülltes Leben bis zuletzt zu ermöglichen. Denn nicht die Schmerzen, sondern der Verlust des Lebenssinns sei meist der Grund für den Wunsch nach aktiver Sterbehilfe, sagt Fegg. Gerade wurde er für seine Arbeit mit dem Young Investigator Award der Europäischen Gesellschaft für Palliativmedizin ausgezeichnet.

sueddeutsche.de: Wie sind Sie darauf gekommen, sich mit dem Sinn des Lebens zu beschäftigen?

Martin Fegg: Als ich ein Bub war, ist meine Oma gestorben, zu der ich eine sehr innige Beziehung hatte. Da tauchte bei mir das erste Mal die Frage auf: Was für einen Sinn macht das Leben, wenn es endlich ist, wenn wir Menschen verabschieden müssen, die wir gernhaben? Wenn wir selbst sterben müssen? Das hat mich zur Philosophie und zur Psychologie gebracht - und schließlich auch zur Palliativmedizin.

sueddeutsche.de: Und können Sie diese Frage heute beantworten?

Fegg: Es ist wichtig ist, tief in sich hineinzuspüren. Die Sinnfrage kann nicht mit dem Verstand beantwortet werden. Man kann aber sagen, dass zu einer Sinnerfahrung drei Komponenten gehören: Ein Gefühl von Erfülltsein, also eine emotionale Komponente. Dann eine Struktur und Ordnung, die Halt gibt. Gerade bei den Krebspatienten zerreißt dieser Ordnungszusammenhang völlig. Ich höre oft von Patienten, dass sie ihr Leben ganz anders geplant hatten. Der Krebs ist immer ein Bruch. Die dritte Komponente hängt mit Zielen und Werten zusammen. Das Wesentliche ist aber, dass Sinn etwas sehr Subjektives ist. Wir gehen deshalb bei der Forschung ganz individuell heran.

sueddeutsche.de: Sie messen den Sinn des Lebens. Geht das überhaupt?

Fegg: In der Frage nach dem Sinn des Lebens steckt noch viel Potential - gerade weil es so schwierig ist, ihn empirisch zu messen. Wir haben tausend Menschen gefragt, was ihnen Halt im Leben gibt - und dreitausend verschiedene Antworten bekommen. Diese haben wir dann in Kategorien wie Familie, Partnerschaft, Freunde, Freizeit, Spiritualität, Natur, Tiere, Hobbys zusammengefasst. Bei unserem Fragebogen kann man die Bereiche, die einem wichtig sind, selbst benennen. Die Wichtigkeit multipliziert mit der Zufriedenheit in diesen Bereichen ergibt dann ein Maß für den individuell empfundenen Lebenssinn. Das Verfahren wird inzwischen auch auf Englisch, Französisch und Japanisch verwendet.

sueddeutsche.de: Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Fegg: Über 80 Prozent der Deutschen nennen die Familie, an zweiter Stelle steht die Arbeit. Erst dann kommen Freizeit, Freunde und Gesundheit. Der Lebenssinn ist bei Frauen höher als bei Männern. Vielleicht weil sie sich mehr damit beschäftigen oder weil Männer um die 40 den Beruf sinnstiftend nennen und ihre Zufriedenheit dort so gering ist. Auch innerhalb Deutschlands gibt es Unterschiede, im Osten ist die Zufriedenheit am niedrigsten.

sueddeutsche.de: Verändert sich der Sinn des Lebens auch mit dem Alter?

Fegg: In der Jugend sind Freunde wichtig, zwischen 20 und 30 ist es die Partnerschaft, mit 40 die Arbeit. Danach wird Spiritualität wichtiger und die Zufriedenheit steigt an. Glauben - im weitesten Sinne des Wortes - scheint damit den Lebenssinn zu steigern.

sueddeutsche.de: Sie haben den Fragebogen für unheilbar Kranke entwickelt. Wie sieht es mit deren Lebenssinn aus?

Fegg: Wenn es Menschen gesundheitlich schlecht geht, verlagert sich ihre Zufriedenheit. Bestimmte Bereiche gewinnen an Bedeutung - etwa die Partnerschaft oder Spiritualität. Wir arbeiten mit einer Skala von 0 bis 100. Bei Palliativpatienten liegt der Gesamtwert bei 75, bei Gesunden bei rund 80. Die Zufriedenheit von todkranken Menschen ist damit geringer, aber dennoch erstaunlich hoch. In einigen Bereichen sind Palliativpatienten sogar genauso zufrieden wie die Normalbevölkerung. Das ist ein Hinwies darauf, dass Sterben nicht das Ende jedes Lebenssinns sein muss.

sueddeutsche.de: Was fangen Sie mit dieser Erkenntnis hier im Krankenhaus München-Großhadern an?

Fegg: Wir können mit dem Fragebogen die Menschen identifizieren, die den Lebenssinn verlieren und wir sehen, was ihnen wichtig ist. Der Tod ist so individuell wie das Leben, deshalb haben wir spezielle psychotherapeutische Unterstützungsmöglichkeiten entwickelt. Für Michael, 39, der an Magenkrebs litt, war seine Familie sinnstiftend. Er war zufrieden damit. Nicht zufrieden war er mit seiner Gesundheit und dem Wunsch, etwas zu hinterlassen. Wir mussten also seine Schmerzen lindern und überlegen, was er für seine Kinder tun kann.

sueddeutsche.de: Was könnte das sein?

Fegg: Eine meiner Patientinnen hat beispielsweise für jeden Lebensabschnitt ihrer Tochter ein Video gemacht, damit eine Verbindung bleibt. Einer anderen Patientin, Christina, 53, haben wir bei der Angstbewältigung geholfen. In ihrer Partnerschaft gab es viel zu klären. Obwohl sie sterben musste, ist ihre Sinnerfülltheit gestiegen.

sueddeutsche.de: Was können Ärzte von Ihnen lernen?

Fegg: Den Umgang mit Ängsten, Trauer, Depressionen und die Arbeit mit den Angehörigen. Ich habe Aufklärungsgespräche von Ärzten miterlebt, die grauenhaft waren. Es geht darum anzuerkennen, dass das Leben endlich ist und Sterben wieder einen Platz in der Medizin hat, dass man die Sterbenden mit Würde bis zuletzt begleitet. Wir wollen nicht nur dem Leben mehr Tage geben, sondern den Tagen auch mehr Leben.

sueddeutsche.de: Und wie gehen Sie damit um, dass der Tod Sie täglich begleitet?

Fegg: Man kann dabei viel lernen. Ich werde immer wieder daran erinnert, dass das Leben endlich ist. Deshalb frage ich mich oft: Was ist mir eigentlich wichtig? Man sollte sich nicht alles aufsparen bis zum Ende, um dann darüber zu trauern, was man alles nicht getan hat. Das Leben findet jetzt statt.

Mehr Informationen zum Test unter www.palliativmedizin.klinikum.uni-muenchen.de

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