Null acht neun:Im anderen sich selbst erkennen

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Man würde ja so gerne mal im Selbstversuch das Leben eines prominenten Münchners ergründen. Nur: Da hat die Stadt einfach keinen geeigneten zu bieten

Von Rudolf Neumaier

Ein britischer Kulturwissenschaftler namens Will Brooker erforscht gerade am eigenen Leib, wie man sich als David Bowie im Wandel der Zeiten fühlt. In einem Interview mit der taz gab der Mann Einblick in sein Projekt. Im Schnelldurchgang von wenigen Monaten will er die gesamte Entwicklung des Popkünstlers Bowie von 1965 bis heute durchleben. Diese Woche lebt der Selbstversuchsbowie gerade im Jahr 1983, als Bowie besonders blass und abgemagert war. Brooker kleidet sich wie Bowie, schminkt sich wie Bowie, verzehrt wie Bowie ausschließlich rote Paprika und Milch, wobei Brooker einschränkt, dass ein Mangel an Authentizität insofern bestehe, als er in seiner Eigenschaft als Hochschullehrer auf die Einnahme von Kokain aus rechtlichen Gründen verzichten müsse. Aber er nimmt Gesangsunterricht, um wie Bowie singen zu können, er malt wie Bowie expressionistisch, er besucht Bowies Kneipen, zum Beispiel die Berliner Schwulenbar "Anderes Ufer" und so weiter. "Auto-Ethnografie" nennt der Wissenschaftler seinen Ansatz und versichert, bereits Lebensleitmotive sowie schlechte Eigenschaften seines Objektes erkannt zu haben. Zudem sei er "zu einem dunklen Kern meines Selbst" vorgestoßen, welches gleichbedeutend ist mit Bowies Selbst.

Dass Historiker ernsthaft Römer, Ritter und Burgfräulein nachspielen, ist nicht neu. Reenactment heißt so was oder auch experimentelle Archäologie. Sich als Forschungsobjekte Zeitgenossen vorzunehmen, klingt hingegen nach einer depperten Idee. Doch bei näherem Betrachten wird sie reizvoll - gerade für Soziologen und Politologen. Ein paar Wochen als Markus Söder durchs Land södern, Söders Sehnsüchte erspüren und bis aufs Messer diese als Keckheit getarnte Mangeleloquenz ausleben. Kurzum: Die Abgründe des Heimatministers aus seiner eigenen Perspektive zu ergründen, das wäre mal Wissenschaft! Oder Matthias Lilienthal: als personifizierter Kapuzenpulliturnschuh mit Friseurverweigerungsfrisur durch die Maximilianstraße trotten, und es wird (erkenne dich selbst!) vielleicht nachvollziehbarer, warum der Intendant der Kammerspiele Politik aufführt statt mal wieder aufregendes Theater zu machen.

Nebenbei fällt allerdings auf, dass München außer Pep Guardiola und Petar Radenkovic keine Popfiguren zu bieten hat, deren Inneres sich für Selbstversuchsforscher nach der Brooker-Methode zu erkunden lohnte. Verrückt: Der Krawattenhändler Rudolph Moshammer hat dann doch eine große Lücke hinterlassen. Würde man eine Glitzer-Umfrage auf dem Marienplatz vornehmen, käme Alfons Schuhbeck als schillerndste Gestalt der Stadt heraus. Ein Koch. Alfons Schuhbeck erkunden? Sehr abgründig: Im Kochhemd herumrennen und Ingwer schlucken. Immer nur Ingwer.

© SZ vom 21.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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