Neue Behandlungen:Neue Therapie für Senioren

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Georg Gradl (li.), Chefarzt der Unfallchirurgie in Harlaching, und Wilfried Wüst, Chefarzt der Akutgeriatrie in Neuperlach, beraten Hedwig Riedel. (Foto: Florian Peljak)

Eine Knochenfraktur hat gerade für ältere Patienten oft fatale Folgen - bis hin zur Einweisung ins Pflegeheim. Eine neue Kombination aus Behandlungsmethoden von Unfallchirurgie und Akutgeriatrie soll so etwas verhindern

Von Stephan Handel

Dass aus Hedwig Riedel ein Versuchskaninchen geworden ist, das liegt an ihrer Dusche. Dort ist sie blöd ausgerutscht. Und weil sie 84 Jahre alt ist, hat einer der Wirbel in ihrem Rückgrat das übel genommen und ist gebrochen. Jetzt liegt sie im städtischen Klinikum Neuperlach - als eine der ersten Patienten, die in den Genuss einer neuen Behandlung dort kommen, beziehungsweise: einer neuen Kombination mehrerer Behandlungen. Die Chefärzte Georg Gradl und Wilfried Wüst würden sich das Wort "Versuchskaninchen" natürlich verbitten. Wüst leitet die Akutgeriatrie in Neuperlach, Gradl die Unfallchirurgie in Harlaching, beides städtische Krankenhäuser. Verletzungen wie die von Hedwig Riedel sind nicht selten bei älteren Menschen: Sie stürzen und ihre Knochen brechen. Dann sind sie zunächst ein Fall für Gradl. Und der sagt den für einen Chirurgen erstaunlichen Satz: "Schön ist's, wenn wir nichts machen müssen." Für Hedwig Riedel bedeutet das allerdings Arbeit: Um 6.30 Uhr war der Physiotherapeut da, dann Massage, Elektrotherapie, Ultraschall, Röntgen.

Das ist das Neue an der Kooperation zwischen Gradl und Wüst, zwischen Harlaching und Neuperlach: dass der Patient nicht mehr von einem Arzt zum anderen weitergereicht wird, sondern dass alle Disziplinen von Anfang an zusammenarbeiten. "Aus der Sequenz wird eine Behandlung", sagt Wüst.

Bei älteren Menschen ist die Verletzung, der Knochenbruch, oft nur der Hinweis auf andere Probleme. "Ein solcher Unfall kann ein Zeichen für zunehmende Gebrechlichkeit sein", sagt Gradl. Deshalb reicht es nicht, die Fraktur allein zu behandeln. Es geht darum, den gesamten Komplex des alternden Menschen zu behandeln - mit klarem Ziel: "Wir wollen ihn wieder auf die Beine bringen", so Gradl. Und das bedeutet, unausgesprochen: Wir wollen verhindern, dass er ins Pflegeheim muss.

Der fatale Automatismus ging bislang so: Der ältere Patient wird operiert. Dann liegt er ein paar Tage auf der Station und kommt anschließend in eine Reha-Einrichtung. Die ist aber nicht eingerichtet auf Folgeerkrankungen, etwa eine Lungenentzündung. Tritt eine solche auf, kommt der Patient wieder ins Krankenhaus, womit die notwendige Reha meist wegfällt. Bis die Entzündung ausgeheilt ist, haben sich die Muskeln weiter abgebaut, und weil sie im Krankenhaus nichts mehr mit dem Patienten anzufangen wissen, landet er schließlich im Pflegeheim.

Gradl hat eine Dissertation betreut, die dieses Szenario wissenschaftlich unterfüttern sollte. Dazu wurden Patienten aufgesucht, die vor drei Jahren wegen einer Oberschenkelfraktur behandelt worden waren. Fast 20 Prozent von ihnen erlebten nach der OP eine einschneidende Veränderung ihrer Lebensumstände, elf Prozent verloren durch den Umzug in ein Pflegeheim ihre Selbständigkeit, sieben Prozent mussten ihre Wohnung aufgeben und in eine Einrichtung für betreutes Wohnen ziehen. Immerhin noch zwölf Prozent konnten zwar in ihrem Familienverbund bleiben, benötigten allerdings Pflege und räumliche Veränderungen in ihrem Zuhause.

Das alles muss nicht sein, finden Gradl und Wüst - und halten die Struktur in ihren beiden Häusern für geradezu ideal. Auf längere Sicht soll es auch nicht mehr nötig sein, die Patienten zwischen Harlaching und Neuperlach hin- und herzufahren - dann sollen in Harlaching eigene akutgeriatrische Betten stehen, Ärzte aus Neuperlach würden zur Behandlung anreisen. Das Vorbild finden sie dabei im eigenen Unternehmen: Das Schwabinger Krankenhaus, ebenfalls zum Städtischen Klinikum gehörend, bietet schon seit einiger Zeit fächerübergreifende Behandlung in seinem Alterstrauma-Zentrum an. Und das LMU-Klinikum hat vor rund einem Jahr an der Ziemssen-Klinik eine Akutgeriatrie etabliert, die Chirurgie dazu gibt's gleich um die Ecke in der Nussbaumstraße.

Hedwig Riedel mit ihrem gebrochenen Wirbel wird noch etwa zwei Wochen in Neuperlach bleiben. Die Schmerzmittel schlagen gut an, durch regelmäßiges Röntgen wird überprüft, ob der Wirbel auch so stabil bleibt, wie die Ärzte ihm das zutrauen. Frühmorgens kommt der Masseur, auch der restliche Tag ist ganz gut ausgefüllt mit Behandlungen, Beratungen, Gesprächen: So war etwa der Sozialarbeiter schon da, um zu ergründen, ob Hedwig Riedel eine Pflegestufe benötigt. Eine chronische Bronchitis, die sie schon seit Jahren plagt, wird gleich mitbehandelt. Den ebenfalls zur Verfügung stehenden Psychologen wird sie wohl nicht in Anspruch nehmen müssen: keine Anzeichen von Demenz bei ihr. Und den Ergotherapeuten braucht sie auch nicht, wie man richtig und rückenschonend aus dem Bett aufsteht, das hat sie schon bei ihrer Hüftoperation gelernt.

Eine Vorzeigepatientin also, fast. Nur eines passt Winfried Wüst nicht, dem Neuperlacher Geriatrie-Chef: Über Hedwig Riedels Bett baumelt, wie immer an Krankenhausbetten, an einem Galgen ein Handgriff. Der soll den Patienten beim Aufstehen helfen, unterstützt also eigentlich das Anliegen der neuen Kooperation, die Leute möglichst schnell auf die Beine zu bringen. Für Hedwig Riedels Wirbelsäule wäre es aber Gift, sich daran hochzuziehen. Ein Griff, und der Griff ist entfernt - die Patientin wird es auch ohne ihn aus dem Bett schaffen, für dieses Mal und für länger.

© SZ vom 13.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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