Münchens Wirtschaftsgeschichte: Transport:Vom Leben und Sterben am Fluss

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Die Flößerei war gefährlich, aber auf der Isar ließen sich Waren im Mittelalter immer noch schneller und sicherer befördern als über Land. Auch Fürsten schätzten die Vorzüge einer Fahrt auf Baumstämmen

Von Joachim Käppner

Da hockt man an einem schönen Spätsommertag an der alten Mühlthaler Schleuse, im Biergarten des Gasthauses "Zur Mühle", unter sich die Isar. Der Wind rauscht in den Bäumen, und man erörtert ernsthafte Dinge, etwa ob ein weiteres Helles zu bestellen sei, und in welcher Liga die Münchner Löwen wohl bald spielen werden, wenn man das spielen nennen will, was sie da treiben. Alles ist so, wie es immer war, und wie es sein soll.

Aber was ist das?

Da ertönt ein fernes Johlen und Scheppern, erst leise, dann rasch näherkommend. Es klingt anfangs, als rücke ein ostgotischer Heerzug heran, dann wie eine Blaskapelle auf der Flucht vor einem zu Recht aufgebrachten Publikum. Schließlich nähert sich schaukelnd ein Floß, darauf stark bezechte Herren, ein paar Musiker und ein Toilettenhäuschen. Bald wird die ganze Bande johlend die Floßrutsche herabsausen und dann wie ein weichendes Lärmgewitter isarabwärts verschwinden.

Die je nach Sichtweise beliebten oder gefürchteten Isarfloßfahrten - oder, um zeitgemäß mit einem Anbieter zu sprechen, "Isarfloßfahrten mit Isar-Floß-Event" - führen meist von Wolfratshausen bis zur "Isarlände" südlich des Münchner Zoos. Die mehrstündige Flussreise ist nicht nur eine Besucherattraktion von regionaltypischer Derbheit, sondern auf ihre Weise auch ein Überbleibsel einer Branche, die einst zu den wichtigsten Münchens und seines Umlandes gehörte: der Flößerei.

Diese Zunft ist sogar fast so alt wie München selbst, das 1158 gegründet wurde: Nur ein Jahr später verlieh der Andechser Graf Berthold III. den Flößern das Zunftrecht und machte damit aus einer alten Praxis, per Holzgefährt Waren zu transportieren, ein florierendes Gewerbe, das nun aber nicht mehr jedem offenstand. Wer das Flößen nicht gelernt hatte, durfte es fortan nicht mehr. Das hatte mit Kontrolle zu tun, aber auch mit Sicherheit. Denn hätte es damals schon Verkehrsunfallberichte gegeben, hätte die Rubrik "Wasserfahrzeuge aller Art" mit Ertrunkenen und Zerquetschten sicher ganz oben gestanden.

Der Fluss war damals der wichtigste Transportweg, auf ihm ließen sich Waren und Menschen schneller und sicherer vor Überfällen befördern als über Land, wo es höchstens steinige Lehmstraßen gab und ein Ochsenkarren selbst auf der großen, nach München führenden Salzstraße nur langsam vorankam. Doch war der Fluss auch ein tückischer Gegner mit Strudeln, Untiefen und überschwemmten Auen. Der Gedanke war nicht unbegründet, dass ein Flößer sein Handwerk ebenso verstehen sollte wie den Strom, auf dem er es betrieb.

Einst wurden auf der Isar unter anderem Holz, Steine, Handwerksprodukte und Lebensmittel transportiert. Heute dienen Floßfahrten dem Vergnügen. (Foto: Hartmut Pöstges)

Viele Marterl, Votivtafeln und Chroniken zeugen von den Gefahren, die dem Flößer drohten, auch wenn ihn keine Sirenen mit verführerischen Gesängen in die Stromschnellen lockten wie auf der Loreley am Rhein. In Wegscheid erinnert eine Votivtafel von 1664 an die Errettung des Flößers Marx Muer Pökker durch himmlische Mächte: Dieser habe "sich in grosser Wassers Gefahr auf der Isser bey der lendt zu miniche (auf der Isar bei der Münchner Lände) da er hinein gefallen ist und weit gerunnen, so hat er sich zu unser lieben fraun und St. Antony verlobt ist also gott Lob und danckh wiederumb herauß khommen." (Das Zitat stammt aus dem Buch "Entlang der Isar" von Gabriele Rüth, Allitera Verlag, München 2015.)

Zum Ausgleich für solche Not waren die Flößer, geschützt durch die Zunftordnung, alles andere als arme Leute. Es gab Bier und Brot, Fleisch und vernünftigen Lohn, letzteren meist nach der Landung in München, von wo aus sich die Klügeren schleunigst auf den Fußweg zurück ins Oberland begaben. Die weniger Klugen suchten die Kaschemmen der Au oder im Münchner Tal auf, wo das Geld verzecht oder den Bierdimpfln aus der Tasche gezogen wurde. Dort, in den Vorstädten, mangelte es nicht an Leuten, "die sich in ihrer Not die Bedürfnisse des Lebens abseits vom gebotenen Wege verschafften", wie es Josef Freudensbergers Geschichte der Au 1913 in bewundernswerter Zurückhaltung ausdrückte.

Baumaterial, vor allem Holz, gelangten via Loisach und Isar leicht nach München, in Wolfratshausen befand sich ein Sammelplatz. Solche schwer beladenen Flöße waren es, die ab 1473 das Holz für den Bau der Münchner Frauenkirche aus dem Isarwinkel heranschafften. Dafür schafften 147 Flöße gut 7000 Baumstämme aus den Bergen in die große Stadt, wie dem Buch "Entlang der Isar" zu entnehmen ist.

1487 bis 1679 hielten vor allem venezianische Kaufleute ihren Markt in Mittenwald ab. Die Stadt, die den "Bozener Markt" alle fünf Jahre neu inszeniert, vermeldet noch heute stolz: "Schätze des Orients und Italiens, wie erlesene Gewürze, Südfrüchte, Ballen mit Samt, Seide und Baumwolle aus Ägypten, Ölfässer und Fässer mit köstlichem Wein, welche zum Weitertransport nach dem Norden hier gelagert und dann weiter transportiert wurden" - und zwar hauptsächlich per Floß über die Isar, in die kargen Länder der Deutschen und Nordeuropäer, die sich sehnten nach solchem Luxus von warmen, geheimnisvollen Gestaden.

Die typische Strecke führte über Eschenlohe, Ohlstadt, durch den Kochelsee und Benediktbeuern zur Zollstelle nach Wolfratshausen. 1496 legten 3639 Flöße an der dortigen Lände an (wer Geld eintreibt, hat schon immer die präzisesten Statistiken geführt). So beschreibt eine Aufstellung namens "Summarische Extrakt und beschreybung der Khauf-Handels und Schefleuth im Lands Bayrn" 1501 als abgabenpflichtig: gebogenes Ebenholz, Papier, Pferdedecken, Käse, Schafwolle, Maultrommeln, Barchent, gestrickte Hemden, Kreide, Schuhe, Kupferwasser, Schmalz, Schleifsteine, Wetzsteine, Hopfenstangen, Seegras, Fische (auch lebende).

Dort, wo heute das Deutsche Museum steht, muss es jahrhundertelang zugegangen sein wie heute am Autobahnende bei Schwabing: Chaos, Stau und haltlose Flüche auf all die Deppen, die anderen Verkehrsteilnehmer, Letzteres eine Kunst, in der die Münchner noch heute führend sind. Damals war dies sogar per Zunftordnung untersagt - wohl eher ein frommer Wunsch: "Ein jeder Flößer soll sich des Fluchens und der Gotteslästerung enthalten." Hier jedenfalls landeten die für München bestimmten Flöße.

Die SZ-Serie "Märkte, Münzen und Maschinen - Münchens Wirtschaftsgeschichte" ist ab April 2016 als Buch im Handel erhältlich. (Foto: N/A)

Über Jahrhunderte ging das so. 1767 malte Joseph Stefan das farbenfrohe Wimmelbild "Zum Grünen Baum" im Lehel. An Münchens Ufern entstanden Mühlen und viele Fertigungsbetriebe, vor allem bei den armen Vorstädtern der Au unter so hygienischen Bedingungen, dass es wohl selbst der Sau grauste, die hier ungestört durch die Gassen streifte. Von der "Unteren Lände" legte seit dem 17. Jahrhundert sogar ein "Ordinari" genanntes Fernreisefloß ab, einmal wöchentlich via Freising und Passau bis nach Wien. Wer mehr zahlte, sozusagen erste Klasse reiste, durfte unter einem Holzdach Platz nehmen. Die heutigen Gaudi-Flöße werden bei Regen übrigens ebenfalls überdacht, mit Zelttuch.

Auch vorher war die Europareise per Isarfloß nicht ungewöhnlich. Es soll im frühen 15. Jahrhundert sogar ein leibhaftiger byzantinischer Kaiser diesen Weg bis Wien genommen haben, als er im christlichen Abendland vergeblich Hilfe suchte gegen die Heere der Osmanen, die vor den brüchigen Mauern der alten Kaiserstadt Konstantinopel standen.

Der Ausbau der Residenzstadt unter König Ludwig I. (1786 - 1868) führte zu einem weiteren Aufschwung der Flößerei. Bis etwa 1880 zählte man jährlich bis zu 8000 Flöße, die in München landeten. 1858, zur Spätblüte der Flößerei, ließen die Wolfratshauser Floßmeister eine stolze Fahne für ihre Gewerbe anfertigen. In ihrer Mitte sieht man Sankt Nikolaus, ihren Schutzpatron. Bei Gefahr riefen die Männer eine Art Stoßgebet: "Sankt Nikolaus uns bewahr, vor allem Unglück und Wassergefahr!"

Doch selbst der Heilige vermochte die Seinen nicht mehr lange zu beschützen, und die größte Gefahr war nicht länger das Wasser. Dann erging es dem Gewerbe wie bald dem Segelschiff: Die Dampfmaschine und die Eisenbahn machten ihm während der Industrialisierung so rasch den Garaus, dass ein ratloses, wütendes Prekariat von Arbeitslosen zurückblieb.

Spätestens 1891, als die erste Isartalbahn zwischen München und Wolfratshausen verkehrte, war das Ende absehbar; die Flößerei verkümmerte rasch und war bald verschwunden. Die Regulierung des Wasserlaufs durch den Sylvensteinspeicher oder den Bad Tölzer Stausee ließ keinen Platz mehr für die alte Kunst. Bleibt zur Erinnerung das Eventfloß, und, wie es betulich auf der Homepage Münchens heißt, "auf gutes Wetter zu hoffen - und darauf, dass Sankt Nikolaus, der Wasser- und Schiffspatron, den Landratten gnädig gesonnen ist".

In der nächsten Folge am Dienstag: der Film- und Medienstandort München

© SZ vom 21.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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