München vor der Europawahl:"Die Leute lachen über uns"

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Als Brite hat man es ja gerade nicht leicht, doch in der Gemeinschaft lässt sich der Brexit-Spott besser ertragen. Gut, dass es den "Friday Beer Garden" gibt - dort wollen viele die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen

Von Anna Hoben

Freitag ist Stammtischtag, daran ist nicht zu rütteln, und in instabilen Zeiten ist es sicher gut, stabile Routinen zu haben. Seit 40 Jahren trifft sich eine Gruppe englischer Muttersprachler zum "Friday Beer Garden", so nennen sie es, auch im Winter, wenn sie sich drinnen treffen. Früher jede Woche am selben Ort, E-Mail und Apps gab es noch nicht. Mittlerweile jede Woche woanders. Zwei Dinge aber sind in all der Zeit gleich geblieben. Erstens gibt es wirklich jeden Freitag ein Treffen, "ohne Ausnahme", sagt Gwyn Evans, der die Zusammenkünfte seit mehr als 20 Jahren organisiert und auf immer neue Fantasie- oder Comicfigurennamen reserviert: Payback Carter, Elon Tusk, Barney Rubble. Zweitens kommen nur Lokale mit Stehtischen in Frage - damit man umherwandern und mit verschiedenen Leuten plaudern kann.

Es fühlt sich tatsächlich ein bisschen an wie in einem englischen Pub, wenn man sich an einem Freitag im Wirtshaus Leib & Seele im Lehel dazugesellt, nur dass die Biere geringfügig kleiner sind: Statt Pints halten die Männer Halbe in den Händen, die meisten Frauen trinken Wein. Gwyn Evans stammt aus Wales, aus einem kleinen Ort namens Llandeilo. Er ist 52 Jahre alt und Elektroingenieur, mittlerweile hat er mehr als die Hälfte seines Lebens in Deutschland verbracht. Die Mutter seines Sohnes ist Polin, der Sohn fühlt sich als Deutscher - eine typisch europäische Familie. Der Brexit aber hat Evans nun dazu gebracht, auch deutscher Staatsbürger werden zu wollen: "Das wird das Leben einfacher machen." Es scheint ja nicht mehr Vieles einfach zu sein, seit die Briten beschlossen haben, die Europäische Union zu verlassen. Fast drei Jahre ist das nun her, noch immer ringt die Politik um die Umsetzung, noch immer sieht man im Fernsehen allabendlich nur leicht variierende Debattenbilder aus dem Londoner Parlament, noch immer gehört Großbritannien zur EU. Aller Voraussicht nach wird es an der Europawahl teilnehmen.

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(Foto: Florian Peljak)

"Vielleicht bin ich naiv", sagt Dianne Taylor, "aber ich mag die offenen Grenzen". Sie will einen Weg finden, mit ihrem schottischen Mann David in Deutschland bleiben zu können.

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(Foto: Florian Peljak)

Gwyn Evans lässt sich nach 28 Jahren in Deutschland nun einbürgern.

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(Foto: Florian Peljak)

Allison Mally hat bereits die doppelte Staatsbürgerschaft.

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(Foto: Florian Peljak)

Seit 40 Jahren gibt es in München eine Gruppe englischer Muttersprachler, die regelmäßig zusammen kommt. "Friday Beer Garden" nennen sie das - es gibt jeden Freitag ein Treffen, ohne Ausnahme, immer an einem anderen Ort.

Bei seinen jüngsten Reisen auf die Insel habe er den Eindruck gewonnen, bei vielen Briten mache sich eine Stimmung von Erschöpfung, Spott und Gleichgültigkeit über die "never ending Brexit story" breit, hat der deutsch-britische Europapolitiker David McAllister gerade in einem Interview gesagt. Ein bisschen so ist es auch an diesem Abend im Lehel. Gwyn Evans zum Beispiel zählt mal wieder die Kette der Irrationalität auf, die er wahrscheinlich schon oft aufgezählt hat: dass in Teilen von Wales eine hohe Arbeitslosigkeit herrsche. Dass genau dort die Menschen mehrheitlich für den Brexit gestimmt haben, dass sie genau dort bisher die meisten Fördergelder von der EU bekommen haben, dass genau diese Menschen künftig wirtschaftlich am meisten unter den Konsequenzen des Ausstiegs leiden dürften. Gwyn Evans, ein spröder, freundlicher Mann, fasst den Brexit so zusammen: "Es ist ein Desaster. Es wird Großbritannien zerstören." Dann wendet er sich einem anderen Gesprächspartner und einem anderen Thema zu.

Vor ein paar Wochen hat Evans an der Volkshochschule die Sprachprüfung B1 für die Einbürgerung abgelegt. Das Erreichen dieser Stufe ist Voraussetzung für die doppelte Staatsangehörigkeit. Schreiben, Hörverständnis, Konversation mit einem anderen Prüfling. Sein Deutsch sei "nicht brillant", sagt Evans, "ich war ein bisschen nervös." Die Prüfung sei dann aber leichter gewesen als erwartet. Er erzählt all das auf Englisch, denn Freitag ist Beer-Garden-Tag, und das bedeutet für ihn eben auch: Muttersprachentag.

(Foto: Ilona Burgarth)

Etwa 5000 Briten sind in München gemeldet, ihr Interesse an einer Einbürgerung ist seit dem Referendum im Juni 2016 laut Kreisverwaltungsreferat enorm gestiegen. Vor dem Referendum wurden jährlich ungefähr 20 Briten eingebürgert. 2017 waren es 241, im Jahr darauf 500. Von Januar bis März dieses Jahres haben bereits 199 Briten die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Die Einbürgerungsstelle hat längst auf den erhöhten Bedarf reagiert, seit einem Jahr reserviert sie jede Woche 20 Termine nur für Briten, die einen solchen Antrag stellen wollen. Auch die Volkshochschule nimmt alle Anmeldungen zur Einbürgerung ohne Platzbeschränkung an - und reserviert bei der Sprachprüfung B1 Plätze extra für britische Staatsangehörige. So dämpfe man einen "harten Brexit" für Briten in München ab, heißt es von der Volkshochschule. An einem typischen Test-Tag kommen nun schon mal 40 Briten in den Gasteig.

Auch Dianne Taylor würde sich gern um einen deutschen Pass bewerben, doch weil sie noch keine acht Jahre in Deutschland lebt, ist das noch nicht möglich. Taylor stammt aus der Grafschaft Cumbria im nordwestlichen England, sie hat einen Schotten geheiratet und 25 Jahre bei Inverness gelebt. Ihr Mann David und sie haben beide für "Remain" gestimmt - so wie die meisten Schotten. "Vielleicht bin ich naiv", sagt Dianne Taylor, 56, "aber ich mag die offenen Grenzen". Und dann liefert sie ein flammendes Plädoyer für Europa ab: "Ich liebe die Idee, dass ich in Europa überall hin kann, dass ich reisen kann, wie ich möchte, dass wir uns gegenseitig unterstützen." Dank Europa hat sie hier einen Job gefunden, als es in Schottland keinen Job mehr für sie gab, so intensiv sie auch suchte. In einem Kindergarten in Martinsried bringt sie nun Kindern aus der ganzen Welt spielend Englisch bei. Einige Jahre führten sie und ihr Mann eine Fernehe. Nun ist der 67-Jährige in Rente und lernt Deutsch, sie würden gern zusammen in München bleiben. Zurück nach Schottland gehen sei keine Option. "Nur wenn Schottland unabhängig wird", sagt Dianne Taylor und schaut ihren Mann an. "Oder?" Wenn sie abends die Nachrichten sieht, sorgt sie sich. "Ich denke, oh Gott, was machen wir da, das hätte alles nie passieren dürfen. Die Leute lachen über uns." Großbritannien sei "the laughing stock in Europe", die Zielscheibe des Spotts.

Die Übersetzerin Alison Mally hat bereits die doppelte Staatsbürgerschaft. Geboren in London, aufgewachsen in Kent, seit 35 Jahren in Deutschland. Sollte sie sich für einen Pass entscheiden müssen, wird es schwierig. "Wenn ich nur den deutschen hätte, würde sich das falsch anfühlen." Mally ist oft in England, ihre Mutter und ihre Geschwister leben dort. Die meisten Menschen in ihrem Umfeld hätten für den Brexit gestimmt, erzählt sie. Ihr Bruder etwa, "und auch ein anderer intelligenter Typ, er arbeitet sogar für die europäische Zentralbank". Weil sie schon so lange im Ausland lebt, durfte sie ihre Stimme nicht abgeben. Sie hätte für den Verbleib in der EU gestimmt, räumt aber ein: "Würde ich in England leben, wäre ich wahrscheinlich auch für den Brexit gewesen." Zum Stammtisch ist auch Patrick Devitt gekommen, den man bitte Paddy nennen soll, ein Ire aus Dublin, 65 Jahre alt, Schiebermütze, seit vier Jahrzehnten in München. Devitt ist nicht direkt vom Brexit betroffen, aber sein Heimatland eben schon. An seinem Handy öffnet er Google Maps und zeigt die Problemzonen: die Grenze zwischen Irland und Nordirland, die Route für Exportgüter, die bislang über England führte. "Like turkeys voting for Christmas", so sage man in Irland - die Briten seien wie Truthähne, die für ihr eigenes Elend gestimmt hätten. Dann zeigt er auf einen Mann in der Ecke, der sei Brite, habe aber einen schwedischen Namen, so wie er selbst einen normannischen Namen trage und im Übrigen ein passables Bairisch spreche. Was er damit sagen will: "Wir sind alle Europäer, wir gehören zusammen." Er ist überzeugt: Gäbe es ein neues Referendum, würden die Briten anders abstimmen. Darauf hofft er. "Dass die Engländer vernünftig werden."

© SZ vom 04.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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