Mehr als 20000 Besucher:Selfies zwischen Giganten

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Pantomime, Volkspunk und Kirchenperformance: Unterwegs in der Langen Nacht der Museen

Von Martin Bernstein

Schweigend stehen 90 Menschen im Halbkreis, nur einige flüstern. Es ist stockdunkel dort an der Braunauer Eisenbahnbrücke. Kriminaldirektor Siegfried Benker leuchtet mit seiner Taschenlampe auf ein Holzkreuz an einer improvisierten Gedenkstätte. "Michaela Eisch" steht auf dem Kreuz. Am 17. Mai 1985 ist die Achtjährige verschwunden, vier Wochen später wurde ihre Leiche in einem Gebüsch an der Eisenbahnbrücke gefunden - der einzige Sexualmord an einem Kind, den die Münchner Mordkommission bis heute nicht aufklären konnte. Benker hat auch diesen Fall während der rund einstündigen Busfahrt vorgestellt, die der Verein "Blaulicht" erstmals in der Langen Nacht der Museen angeboten hat.

"Die Stadt ist unser Museum - und die Arbeit der Münchner Polizei, das sind unsere Exponate." Mit diesen Worten hat Benker die 45 Teilnehmer der zweiten Runde in seinem Bus begrüßt. Zwei Busse kurven durch das nächtliche München, den Verbrechen auf der Spur, die die Stadt bewegt haben: am ehemaligen Geschäft Rudolph Moshammers in der Maximilianstraße vorbei und am Tatort des bis heute nicht aufgeklärten Isarmords an Domenico L., zur Tür im Stachus-Zwischengeschoss, hinter der der Oetker-Entführer auf 21 Millionen Mark Lösegeld wartete. Und eben zur Eisenbahnbrücke. Die Suche nach Michaela Eischs Mörder dauert noch immer an, DNA-Spuren könnten den Altfall-Ermittlern helfen, das Verbrechen nach 32 Jahren aufzuklären. Siegfried Benker und Peter Reichl vom Blaulicht-Verein werden mit Fragen bestürmt. Und das ist ihr Ziel.

Denn die beiden Polizisten wollen nicht nur "die Hässlichkeit und die Abgründe" des Verbrechens in München aufzeigen, sondern auch objektive Zahlen und Fakten zur Sicherheitslage in der Stadt vermitteln. "Alles immer schlimmer?" Davon könne keine Rede sein, betont Benker immer wieder. Und er erreicht damit an diesem Abend rund 450 Menschen. Denn kaum hat der Anmeldestand vorm Polizeipräsidium am Samstag kurz nach 18 Uhr geöffnet, hat sich eine lange Menschenschlange gebildet, die bis zur Fußgängerzone reicht. Im Nu sind die fünf Touren restlos ausgebucht, auch die um 1 Uhr nachts. Immerhin zwei Prozent der geschätzt mehr als 22 000 Besucher der langen Museumsnacht werden am Ende auf Krimi-Tour gewesen sein. Und das trotz der Konkurrenz von 90 weiteren Anbietern und Häusern. "Damit hätten wir nie gerechnet", sagt der Blaulicht-Geschäftsführer Kriminaloberrat Peter Reichl. Etliche Gäste melden sich noch am Abend für die regulären, dreistündigen Rundfahrten des Vereins an.

Die "außergewöhnlich lauen Temperaturen" tragen an diesem Samstag das ihre zum besonderen Flair der langen Muserumsnacht bei, findet Pressesprecherin Karin Horch. So herrscht im Kunstareal von Anfang an großer Andrang. Knapp 13 000 Menschen besuchen allein die Pinakothek der Moderne, die Neue Pinakothek und das Museum Brandhorst sowie die Sammlung Schack. 2100 Besucher verzeichnet das Jüdische Museum am Jakobsplatz. Inspiriert von der Ausstellung "Never Walk Alone. Jüdische Identitäten im Sport" liefern sich die Besucher spannende Matches am Tischkicker und beim Tischtennis im Foyer. Auch im Deutschen Museum freut man sich über den Andrang, der bis hinauf zur "Rooftop Bar" unterm Sternenhimmel reicht. "In diesem Jahr war auf der Museumsinsel und im Verkehrszentrum richtig viel los", bilanziert am Ende der Nacht Generaldirektor Wolfgang Heckl. "Ich bin ganz begeistert, dass so viele Menschen an diesem kulturellen Gemeinschaftserlebnis teilhaben."

Doch wohin genau angesichts des riesigen Angebots? "Lange Nacht der Museen in München und die Whatsapp-Gruppe explodiert", schreibt eine Twitter-Userin schon um die Mittagszeit und schildert das Dilemma: "Alles wird minutiös geplant! Man könnte sich auch treiben lassen ..." Planung sieht dann zum Beispiel so aus: Der russische Pantomime Andrey Alexander stellt im Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke den Kampf zwischen Giganten und Göttern dar. Das Publikum darf es ihm nachtun und dabei Selfies machen. Klingt sehr münchnerisch. Aber wo ist dieses Abguss-Museum? Ist das der Tempel mit den Säulen am Königsplatz? Ach nein, das ist die Glyptothek. Oder der gegenüber? Auch nicht. Ah, hier: in der Katharina-von-Bora-Straße 10. Aber das ist nach Ende der Blaulichtfahrt jetzt zeitlich leider nicht mehr zu schaffen.

Also Methode zwei: sich treiben lassen. Ins Lehel etwa. Im Alpinen Museum des Alpenvereins geht es nicht nur in der Ausstellung um "Die Städter im Gebirge". Dort treten in der Museumsnacht gleich vier Mal die Gamskampler mit ihrem Volkspunk auf. Verspricht, lustig zu werden. Der Sänger schaut aus wie John Lennon auf "Abbey Road", die Musik klingt wie Biermösl Blosn auf Speed. Doch von den - wie in der Ankündigung versprochen - satirischen Texten ist im gesteckt vollen Raum kaum was zu verstehen. Also hinaus in die noch immer laue Nachtluft. Ruhe in der "Urhölle", dem im Garten wiederaufgebauten Original der Höllentalangerhütte? Oder gleich daneben in der alten Jubiläumsgrat-Biwakschachtel?

Da ist ein Licht auf der anderen Seite des Isararms. Auch die Lukaskirche hat in dieser Nacht offen, als eines von sieben Gotteshäusern. Viele Besucher, treten ein - und sind gefangen von der Atmosphäre. Ein gigantischer Stoffballon der taiwanesischen Künstlerin Wang Te-Yu verändert den riesigen Kirchenraum, eine stille Performance ihres Landsmannes Lin Wei-Lung lädt zum Innehalten und Nachdenken ein. In dieser Langen Nacht sehen manche Münchner ihre Stadt mit anderen Augen. Und museal, nein, museal wirkt München in diesen sieben Stunden nicht.

© SZ vom 16.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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