Literatur und Flucht:Fremd oder Freund

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Münchner Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben für ein Buchprojekt Flüchtlinge getroffen: Lena Gorelik hat die Geschichte von Ahmad Shahab Khedher aus dem Irak aufgeschrieben

Von Antje Weber

Er hat die Nacht zuvor wieder durchgearbeitet. In einer Pizzeria am Sendlinger Tor, wo er vier Nächte pro Woche von 20 Uhr bis 5 Uhr morgens Teig ausrollt, bäckt, verkauft. Und diese Arbeit, die Ahmad Shahab Khedher aus dem Irak so regelmäßig wachhält, ist nur einer von zwei Jobs. Doch das macht ihm nichts aus: "Ich schlafe nicht so viel", sagt der freundliche Mann mit einem großen Lächeln.

Warum er nicht so viel schläft, das wird Ahmad Khedher bei diesem Gespräch im Literaturhaus, an einem Mittag zwischen zwei seiner Nachtschichten, nicht sehr ausführlich begründen; man möchte ihn dazu auch nicht nötigen. Alles ist ja in der Geschichte zu lesen, die Lena Gorelik über ihr Gespräch mit ihm geschrieben hat. Der Text der Schriftstellerin und viele weitere Texte fügen sich zu einer Anthologie, die beim Literaturfest vorgestellt wird: Für "Die Hoffnung im Gepäck" haben sich Münchner Schriftstellerinnen und Schriftsteller von Doris Dörrie bis zu Uwe Timm mit Flüchtlingen getroffen und sich ihre Geschichten erzählen lassen. Damit die Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern und Kulturen, die seit Tagen, Wochen, Jahren hier Zuflucht suchen, "ein Gesicht bekommen", wie die Herausgeberin Cornelia von Schelling sagt.

Das freundliche Gesicht von Ahmad Shahab Khedher jedenfalls sieht älter aus, als man es sich bei einem 31-Jährigen vorstellt. Tiefe Furchen ziehen sich quer über seine Stirn. Erstaunlich ist das nicht, führt man sich sein Schicksal vor Augen: Der jesidische Kurde entkam nur knapp einem Bombenanschlag, als er sich in seinem Dorf in einer Warteschlange für den Wehrdienst anmelden wollte. Seine acht Begleiter wurden von der Explosion zerfetzt, wie man bei Gorelik lesen kann. Zwei der Sterbenden hielt Khedher in den Armen. "Danach begann alles", heißt es im Text: "Die Schlaflosigkeit, die Weinanfälle, die Erinnerungsfetzen, die in Bildern wiederkamen." Eine posttraumatische Belastungsstörung, die Khedher bis heute beeinträchtigt. Durch die Schlafprobleme und Konzentrationsstörungen fällt es ihm nicht leicht, Deutsch zu lernen; auch lange telefonieren kann er zum Beispiel nicht: "Dann bekomme ich Kopfweh", sagt er.

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(Foto: Max Kratzer)

Ihre Angst begleitet die Flüchtlinge...

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(Foto: Max Kratzer)

...auch beim Posieren für die Fotografien in der Anthologie,...

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(Foto: Max Kratzer)

...viele wollen ihr Gesicht nicht zeigen.

Dass er aber überhaupt hier ist, in München oder vielmehr Dachau, wo er nach Jahren in einer Unterkunft jetzt eine kleine Wohnung hat und endlich auch eine Aufenthaltsgenehmigung statt einem roten Strich für Duldung im Ausweis: Das ist dann doch schon ein ziemlich großes Glück. Und Khedher ist dankbar dafür, denn seine Fluchtgeschichte im Jahr 2009 gab nur bedingt Anlass zur Hoffnung: Tagelang wurde er von Schleppern in einem Lkw durch Europa gefahren, tagelang war er in diesem Lastwagen alleine unten versteckt, nur mit einer Flasche Wasser und einem Nachttopf als Toilettenersatz. Bis ihn die Schlepper nahe München aus dem Lastwagen steigen ließen und sagten: "Hier ist Deutschland." Da hörte er das Wort "Deutschland" zum ersten Mal.

Lena Gorelik kann gut nachempfinden, wie es sich anfühlt, in der Fremde anzukommen. Auch wenn ihre eigene Geschichte, die sie mit ihrer russisch-jüdischen Familie 1992 als "Kontingentflüchtling" nach Deutschland brachte, eine ganz andere ist. "Das Ankommen ist immer dasselbe: sich im fremden Land ausgeliefert zu fühlen. Keinen festen Boden mehr unter den Füßen zu haben." Vor allem auch: sich nicht verständigen zu können, was Gorelik auch anhand einer Figur in ihrem neuen Roman "Null bis unendlich" thematisiert. In einem Land anzukommen, dessen Sprache man nicht beherrscht, wo man sich nicht einmal am Fahrkartenschalter selbst ein Ticket kaufen kann, wo einen die Menschen vielleicht für unfreundlich halten, obwohl man nur hilflos ist: Diese Sprachlosigkeit empfindet Gorelik als "komplette Entwürdigung". Ganz davon abgesehen, dass man auch später, wenn man die Sprache besser beherrsche, in Gesprächen "niemals eine bestimmte Tiefe" zeigen könne.

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(Foto: Charlotte Troll)

Lena Gorelik.

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(Foto: Robert Haas)

Ahmad Shahab Khedher.

Fragt man Ahmad Khedher danach, per Dolmetscherin übrigens, dann lacht er ein bisschen. Die Sprache sei nicht das Schlimmste, so lässt sich seine Antwort interpretieren: "Als Flüchtling ist alles anders. Alles ist fremd, die Kultur, das Land, die Menschen", sagt er. Beziehungsweise sagt es die Dolmetscherin, die Nuancen seiner Antwort werden wir nie erfahren. "Ganz vieles bleibt ungesagt", ja, das weiß auch Lena Gorelik.

Ganz vieles aber wird auch ausgesprochen. In der Küche vom "Augustiner" zum Beispiel, da sind die Ansagen sehr konkret. Dort fand Khedher einen ersten Job, als er immer wieder nach Arbeit herumfragte, es ist dies heute sein Zweitjob neben der Pizzeria. Der Chef beim "Augustiner" brachte Khedher, der keinen Sprachkurs besucht hat und keine Ausbildung vorweisen kann, nach und nach Deutsch bei. Sein erstes Wort? "Gulasch." Schmeckt ihm das wenigstens? "Ja", sagt Khedher, lacht wieder, ein bisschen verlegen zu seiner Dolmetscherin blinzelnd nach dieser seltsamen Frage, die eigentlich nichts zur Sache tut.

Doch man kann ja nicht ausschließlich über die Schrecknisse reden, die Ahmad Khedhers Leben und viele seiner Sätze dunkel grundieren. Über seine Familie zum Beispiel, die in einem nordirakischen Flüchtlingslager festsitzt und froh ist, dass zumindest er in Deutschland ist. "Dann überlebt wenigstens einer von uns, sagen sie", erzählt Khedher, "selbst wenn sonst niemand von uns überlebt". Die Situation der Jesiden ist verzweifelt, und sie holt Khedher auch hier immer wieder ein. Derzeit beschäftigt ihn besonders das Schicksal traumatisierter jesidischer Frauen, von denen einige in Stuttgart Zuflucht gefunden haben, und die er immer wieder besucht.

Wenn er in Stuttgart sei, sagt er, vermisse er allerdings Dachau, das inzwischen wie eine Heimat sei. Sein Lieblingsplatz liegt hoch oben in der Altstadt. Dort geht er manchmal hin und schaut über die Dächer hinweg in die Ferne. Besser, als die Augen zu schließen: "Wenn ich meine Augen zumache, bin ich in Gedanken immer bei der Familie." Dann ist er bei all den Bildern, die ihm weiterhin den Schlaf rauben werden.

© SZ vom 14.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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