Literatur:Sprung in die Zukunft

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Die Schriftstellerin und Journalistin Xifan Yang liest im Rationaltheater aus ihrem Buch "Als die Karpfen fliegen lernten" - eine Familienbiografie, die chinesische Geschichte greifbar macht

Von Lukas Letsch

Jedes Jahr im dritten Monat des Frühlings begeben sich die Karpfen im Huang He, dem Gelben Fluss, auf eine lange, beschwerliche Wanderung. Sie schwimmen flussaufwärts, durch Stromschnellen und Strudel, bis sie völlig erschöpft den Fuß eines tosenden Wasserfalls erreichen - das Drachentor. Mit letzter Kraft versuchen sie, über den Wasserfall zu springen. Einige wenige schaffen es, umso mehr scheitern und kehren zum Startpunkt ihrer Reise zurück, um es im nächsten Jahr erneut zu versuchen. Diejenigen jedoch, die den Sprung meistern und das Drachentor passieren, verwandeln sich der Legende nach in einen mächtigen Drachen.

Seit Jahrhunderten schon steht in China das Überspringen des Drachentors als Symbol für einen plötzlichen sozialen Aufstieg. Gelang dieser Aufstieg damals am kaiserlichen Hof noch durch das Bestehen der Beamtenprüfung, ist heutzutage eher der Erfolg bei Uniaufnahmetests damit verbunden.

In Xifan Yangs Buch springen die Karpfen nicht nur über das Drachentor, sie fliegen. "Als die Karpfen fliegen lernten" (Hanser Berlin) heißt ihr Debütwerk, eine ausgewogene Mischung aus Familienbiografie und informativem Geschichtsbuch, das die turbulente Geschichte der Familie bis ins moderne China der Gegenwart erzählt. Eineinhalb Jahre dauerte es von der Idee bis zum fertigen Buch. "Alles fing damit an, dass ich meine Verwandten in China wieder öfter besuchte", erzählt die 27-jährige Autorin, die mit vier Jahren nach Deutschland kam und heute als freie Korrespondentin wieder in Shanghai lebt. "Ich wollte von ihnen wissen, wie sie China sehen, und dabei habe ich gemerkt, dass die Biografien meiner Verwandten sehr eng mit der jüngeren chinesischen Geschichte verwoben sind. Vor allem die Biografie meines Großvaters." Peng Fangcong heißt er - "Peng ist der Familienname, wie das Schussgeräusch" - und ist heute 81 Jahre alt.

Seine bewegte Lebensgeschichte bildet innerhalb des Buchs das zentrale Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart und begleitet den Leser bis ins heutige China - dabei wird man das Gefühl nicht los, ihn persönlich zu kennen. Als junger Mann geriet er regelmäßig ins Visier der kommunistischen Regierung, mal wegen eines unvorsichtigen Tagebucheintrags, oft wegen seiner Herkunft, denn sein Großvater soll Ende der Zwanzigerjahre zehn Soldaten der Roten Armee erschossen haben und ein "kleiner Grundbesitzer" gewesen sein, ein Dorn im Auge der Kommunisten. So wurde Peng Fangcong häufig Ziel politisch motivierter Schikanen und eines Tages zur Zwangsarbeit auf einen Berg verbannt, wo ihm seine Musik half, am Leben zu bleiben. "Das China dieser Zeit war für mich als junger Mensch aus heutiger Sicht nur schwer vorstellbar", sagt Yang. "Da gibt es Passagen im Buch, zu denen ich mehr Bezug habe, allem voran natürlich mein eigenes Leben und das meiner Eltern."

Auch wenn die Zustände in China heutzutage nicht mehr so schlimm wie zur Jugendzeit des Großvaters seien, berichtet Yang, Kritik am Regime sei berechtigt und notwendig. "Seit Staatspräsident Xi Jinping an der Macht ist, verlieren die Chinesen mehr und mehr gerade erkämpfte Freiheiten. Ein neues Gesetz sieht Haftstrafen für kritische Tweets vor, in den letzten zwei Jahren wurden Hunderte Aktivisten verhaftet. Das Regime sträubt sich gegen Reformen, aber China muss sich öffnen", sagt sie.

Zurück zum Großvater. Der ist mit seinen 81 Jahren immer noch fit und schmiedet unter seinem Künstlernamen "Xia Sunzhu" oder kurz "Herr Xia", was "Sommerbambus" bedeutet, schon Pläne für eine große Gesangskarriere - immerhin wäre er fast in Chinas größter Castingshow gelandet. "Singen kann mein Großvater schon", erzählt Yang lachend, "und er ist Fan von Manuel Neuer. Im vergangenen Sommer haben wir zusammen das Finale der Fußball-WM geschaut." Und die Karpfen? Sie werden während der Lektüre immer mehr zum Symbol des Dankes an die eigene Familie, die so vieles aufgibt, um den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. "Unsere Eltern waren wie die springenden Karpfen am Fuß des Wasserfalls: Sie gaben alles, um übers Drachentor zu fliegen - damit wir heute noch weiter fliegen können als sie."

Xifan Yang: Als die Karpfen fliegen lernten - China am Beispiel meiner Familie , Dienstag, 21. April, 20 Uhr, Rationaltheater, Hesseloherstr. 18, 33 50 03

© SZ vom 21.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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