Leben für die Oper:"Vom Virus befallen"

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Franz Binder hat ein Buch über die Passion Oper geschrieben und ist selbst ein glühender Klassikfan. Nach seinem ersten Wagner-Erlebnis verkaufte er sein Schlagzeug und investierte das Geld in Eintrittskarten

Interview von Jutta Czeguhn

Für die Münchner Opernfreunde ist es eine aufregende Woche: Am Montag kam die Schreckensnachricht, dass sie ihren geliebten Generalmusikdirektor Kirill Petrenko nach Berlin werden abgeben müssen, über kurz oder lang. Zum Wochenausklang gibt es nun aber Balsam für die lädierten Seelen: An diesem Samstag singen Anna Netrebko und Jonas Kaufmann beim Klassik-Gipfel auf dem Königsplatz - und am Sonntag wird die erste Premiere der Opern-Festspiele mit "Pelléas et Mélisande" im Prinzregententheater zu erleben sein. Doch was sind das für Menschen, die in den kommenden Wochen ihre Sommerabende in einem stickigen Opernhaus verbringen werden, statt im Biergarten zu sitzen? Jahr für Jahr bringen sie der Staatsoper eine 98-prozentige Auslastung. "Sie sind von einem Virus befallen, für den es kaum Heilung gibt", sagt Franz Binder, selbst ein Infizierter, der ein Buch über die Passion Oper geschrieben hat. Ein Gespräch über Starkult, Stehplätze bei Wagner, den berüchtigten Silbersee im Parkett, Männertränen und "Tosca" in Taschkent.

SZ: Ein schöner Festspiel-Start, Kirill Petrenko geht nach Berlin.

Franz Binder: Ja, wir werden böse beraubt. Für München ist das ein riesiger Verlust. Aber für ihn natürlich die Chance seines Lebens.

Haben Sie Karten für den Gipfel der Klassikstars auf dem Königsplatz, oder wendet sich da der wahre Operngeher mit Grausen ab?

Mit Bratwurst und Sekt und Pappbechern zwischen Tausenden, das ist nicht unbedingt meine Vorstellung von Oper.

Begonnen hat diese Art von Opern-Massen-Events 1990 mit dem Konzert von Domingo, Pavarotti und Carreras in den römischen Caracalla-Thermen zur Fußball-Weltmeisterschaft. Eine Milliarde Leute haben zugesehen. Sind solche Konzerte nicht auch eine enorme Werbung für die Oper?

Zu allererst ist das ein Riesen-Kommerz. Ich bin nicht sicher, ob die Leute, die dort hingehen oder sich das im Fernsehen ansehen, sich um Karten für ein Opernhaus bemühen würden. Die wissen doch gar nicht, wo sie die bekommen.

Historische Libretti aus dem legendären Mailänder Ricordi-Verlag in deutscher Übersetzung. (Foto: Robert Haas)

Sie schreiben in Ihrem Buch vom "Gefühlsgenerator Oper", der "vorübergehende Herzstillstände" auslösen kann. Wie hat Sie das Virus erwischt? War die Infektion in die Wiege gelegt?

Ich komme aus einem behüteten, aber völlig amusischen Elternhaus, eine Arbeiterfamilie. Die Eltern hörten Ernst Mosch oder Freddy Quinn. Ich Pink Floyd und Psychedelic Rock. Außerdem spielte ich Schlagzeug in einer Band. Meine erste Oper war als 17-Jähriger Bernd Alois Zimmermanns "Die Soldaten". Ich dachte: Um Gottes Willen, wenn das Oper ist. Zudem erntete ich dort als Langhaariger im Blümchenhemd pikierte Blicke. Doch dann die Infektion: Ein Experimentalfilm im Spätprogramm, langatmige Landschaftsaufnahmen, unterlegt mit einer Musik, die mich aus dem Sessel gehoben hat. Im Abspann las ich: Wagner. War das nicht der Typ, der den Soundtrack für Hitlers Reichsparteitage geschrieben hat? Die Inkubationszeit dauerte drei Jahre. Beim Plattenhören bei Freunden habe ich die Filmmusik wiedergefunden: Es war das Vorspiel zu "Tristan und Isolde".

Dann haben Sie der bayerischen Staatsoper eine zweite Chance gegeben.

Ja, mit der "Götterdämmerung". Ich habe beim Kartenbüro angerufen. Um zehn Uhr startet der Vorverkauf, kommen Sie rechtzeitig, hat es geheißen. So gegen zehn vor zehn war ich in der Maximilianstraße, eine Schlange um den Block. Doch ich hatte Anfängerglück und ergatterte einen Stehplatz. An sich ist man als Anfänger bei fünf Stunden Wagner so verloren wie ein Seilbahntourist in der Eiger-Nordwand, aber für mich war das die Einweihung. Ich habe mein Schlagzeug verkauft und das Geld in Opernkarten umgesetzt, teilweise war ich viermal die Woche dort.

Wann wird die Passion zur Obsession, aus dem Wein-Connaisseur ein Alkoholiker?

Wenn es nur noch darum geht, dass man um die Osterzeit möglichst viele Parsifals in ganz Europa abklappert. Ich kenne Leute, die haben von Gründonnerstag bis Ostermontag siebenmal Parsifal gesehen. Das wird dann zur Rekordjagd.

Fällt auch der Starkult in die Kategorie Obsession?

Ich liebe auch manche Stimmen, aber ihnen nachzureisen und jeden Tag am Bühneneingang zu warten oder ihnen vor dem Hotel aufzulauern, das interessiert mich nicht.

Franz Binder, 63, liebt die Oper. Sein Buch aus der Reihe "Philosophie der Passionen" ist heute nur noch als Hörbuch erhältlich. (Foto: Robert Haas)

Aber Sie sind auch in der Welt herumgekommen. Was war Ihre exotischste Opernerfahrung?

Ich war mal in Usbekistan, noch zu Sowjetzeiten, und habe im Opernhaus von Taschkent eine "Tosca" miterlebt. Das Publikum saß wie erstarrt da und hat das über sich ergehen lassen. Oder in Tibet, aber die haben dort eine ganz eigene Opernform.

Haben Sie schon mal in der Oper geweint?

Oh ja, beispielsweise während einer Generalprobe. Ende der Siebzigerjahre, Karl Böhm dirigierte "Fidelio", die junge Hildegard Behrens sang herzzerreißend die Leonore. Da flossen die Tränen.

Heute gibt es Opern-Live-Streams übers Internet, Vorstellungen aus der Met in den Cineplex-Kinos der Welt, auf Youtube findet man schon am Tag nach den Konzerten Mitschnittschnipsel. Die Oper geht neue Wege, hilft das gegen den Silbersee im Parkett und lockt ein junges Publikum?

Ich weiß nicht. Aber die Oper erschüttert die Herzen der Menschen seit 400 Jahren, sie ist keine vorübergehende Mode. Gerade habe ich die amerikanische Sopranistin Joyce DiDonato im Autoradio gehört. Sie erklärt das Phänomen sehr gut: In der Oper ist alles drin, was der Mensch an Drama und Schönheit braucht.

© SZ vom 27.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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