Tafeln in München:Das Netz

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Seit zehn Jahren gibt es im reichen Landkreis München Lebensmittel-Ausgabestellen für Bedürftige. Ehrenamtliche bei Tafeln und Tischen sichern das Armutsrisiko ab. Sie sind gefragte Ansprechpartner für Menschen in Not

Von Iris Hilberth und Bernhard Lohr

Als Ribana Nardi mit ihrem im Dezember geborenen Säugling beim Haarer Tisch auftauchte, handelten die Helfer ganz intuitiv. Weil das Baby auf dem Arm ihrer Mutter trotz der winterlichen Temperaturen nur spärlich bekleidet war, griffen sie zu ihren Schals und hüllten das Neugeborene ein. Damit war fürs Erste Hilfe geleistet. Schnell war klar, dass es damit und mit ein paar Lebensmitteln nicht getan sein würde. Die syrische Mutter und ihr Kind brauchten noch viel mehr. Ein Kinderwagen, Kinderkleidung und anderes fehlten. Und so lief in Haar eine Hilfsmaschinerie an. Ein Rädchen griff ins andere. Ein Aufruf über die Facebook-Seite der Gemeinde - und Mutter und Kind waren anständig versorgt.

Es ist schon länger her, dass sich ein Mensch, der friert und Hunger leidet, allein auf den Staat verlassen konnte. Im sozialen Netz sind viele Lücken entstanden; immer mehr Menschen fallen hindurch. Dazu kommen neuerdings mehr und mehr Flüchtlinge wie Ribana Nardi. Die Tafelbewegung ist eine Folge dieser Entwicklung. Der Staat kommt immer weniger seinen eigentlichen Pflichten nach. Und sie ist Ergebnis davon, dass Menschen nicht mehr zuschauen wollen, wie einerseits eine Gesellschaft im Überfluss versinkt und zugleich auf der anderen Seite Menschen das Nötigste entbehren.

Vor zehn Jahren erreichte die Bewegung den reichen Landkreis München. Es war die Zeit, als die Hartz-Gesetze in Kraft traten, die für viele Menschen Kürzungen mit sich brachten. Die erste Tafel entstand 2005 in Unterföhring, bald darauf folgten Haar und Taufkirchen. In Haar gab das Rathaus den Anstoß, für die wachsende Zahl an Bedürftigen eine Lebensmittelausgabe zu organisieren. Mitte April 2005 fing alles mit einer Ausgabe in der Woche an. Heute gibt es zwei Ausgaben, die Zahl der Empfänger hat sich auf 330 verzehnfacht. 120 Kinder sind darunter. Und mit Lebensmitteln allein ist es nicht mehr getan. Es werden Möbel und Kleidung vermittelt, und bei Bedarf Hilfe bei Behördengängen. Traudl Vater vom Haarer Tisch verhalf Ribana Nardi zu Kinderwagen und Kinderkleidung. Es ist ein Fall von vielen.

Eine Mitarbeiterin des Hachinger Tischs sortiert in den neuen Räumen in Taufkirchen Lebensmittel. (Foto: Catherina Hess)

Die Entwicklung der Tafeln spricht eine klare Sprache. In den Kommunen haben sich ehrenamtlich organisiert soziale Netzwerke gebildet, weil die Notwendigkeit nicht mehr zu übersehen war. Nachbarschaftshilfen übernahmen mehr und mehr Aufgaben. In Haar entstand eine Bürgerstiftung, seit Kurzem greift der Verein Hand in Hand Familien und Alleinerziehenden mit tätiger Hilfe unter die Arme. 5845 Erwerbsfähige und deren Kinder lebten 2005 im Landkreis München von Hartz-IV-Leistungen. 7203 waren es 2014. Dazu kamen 2014 noch 1683 Menschen, die so wenig verdienten oder eine so geringe Rente bezogen, dass sie ein Anrecht auf Leistungen hatten. Prozentual leben die meisten Hartz-IV-Bezieher in Taufkirchen, Haar, Oberschleißheim und Unterschleißheim, die wenigsten in den ländlichen Gemeinden und im Isartal.

Hilfsprojekte entstanden flächendeckend. Im Landkreis existieren 13 Tische und Tafeln. Am Vorbild Haar orientierte sich 2006 das Hachinger Tal. Auf Initiative der Caritas entstand das Projekt für die vier Gemeinden Taufkirchen, Unter- und Oberhaching sowie Sauerlach. Mit 35 Berechtigten startete man damals, inzwischen versorgen 100 Helfer einmal in der Woche etwa 300 Bedürftige mit Lebensmittelspenden von 45 Firmen, 110 Berechtigungsausweise wurden an Einzelpersonen und Familien vergeben. "Und die Zahl wird weiter steigen", sagt der Leiter des Caritas-Zentrums Taufkirchen, Matthias Hilzensauer. Derzeit können alle versorgt werden, die einen Berechtigungsausweis beantragt haben. Doch mehr als 120 wird man nicht bewältigen können.

Allein der Platz in den neuen Räumen in der Lindenpassage und die Anzahl der Helfer lassen nicht mehr zu. Man wird sich etwas überlegen müssen, wenn im reichen Landkreis auch die Armut wächst. Die deutlich steigenden Zahlen bei der Schuldnerberatung sind für Hilzensauer ein deutliche Zeichen dafür. Auch schätzt er, dass unter den zukünftig anerkannten Asylbewerbern Bedürftige dabei sein werden. Doch selbst wer Arbeit hat, kann im Landkreis nicht immer von seinem Lohn leben.

Der Hachinger Tisch hat neue Räumlichkeiten in Taufkirchen. (Foto: Catherina Hess)

Zehn Prozent der Kunden des Hachinger Tischs sind sogenannte Aufstocker, Leute, die arbeiten und zusätzlich Sozialleistungen beziehen. Der Mindestlohn hat das Problem nicht gelöst. Auch unter den Senioren vermutet der Caritas-Chef noch viele Bedürftige, die sich jedoch schämten, die Hilfe in Anspruch zu nehmen. Deshalb versucht man die Ausgabestelle auch so zu gestalten, dass die Berechtigen durch den Hintereingang kommen und sich nicht mitten im Einkaufszentrum in die Schlange der Armen einreihen zu müssen.

Der Haarer Tisch ist zehn Jahre nach seiner Gründung im Gemeindeleben fest verankert. Die Ausgabe findet in einem der attraktivsten Gebäude der Gemeinde, mitten im Ort, statt, in dem für 2,4 Millionen Euro vor wenigen Jahren sanierten Setzerhof. Die Bevölkerung steht hinter der Einrichtung. Das zeigte sich jetzt am Donnerstag, als aus Anlass des zehnjährigen Bestehens die vier Haarer Schulen eine Benefizgala zugunsten des Tischs ausrichteten und gut 400 Gäste den Saal füllten. Mittelschülerinnen führten einen Tanz auf. Grundschüler präsentierten ein Stück und beschworen in einem Lied den Zusammenhalt: "So geht uns keiner verloren." Martin Walter, Schülersprecher des Ernst-Mach-Gymnasiums, sagte als Moderator: "Sie erhöhen die Lebensqualität in Haar. Deshalb möchten sich die vier Haarer Schulen solidarisch erklären."

Wegzudenken sind die Tische und Tafeln im Landkreis nicht mehr. Einfach mal für ein, zwei Wochen schließen? Kaum noch vorstellbar. Die Geschäfte erwarten, dass die Lebensmittel abgeholt werden, die Kunden sind darauf angewiesen. Und längst müssen in Haar und anderswo Waren zugekauft werden, um den Bedarf zu decken. Steigende Mieten seien ein großes Armutsrisiko, sagt Eva Genseleiter aus dem Leitungsteam des Haarer Tischs. Ihr Mitstreiter Jürgen Partenheimer sieht, wie sich die Arbeit des Tischs mehr und mehr ausweitet und professionalisiert. "Die Anforderungen haben sich sehr geändert in zehn Jahren." Und viele, die Hilfe bräuchten, ist er überzeugt, würden mit dem Angebot noch nicht einmal erreicht.

© SZ vom 18.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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