Serie: Schauplätze der Geschichte:Die Multikulti-Gesellschaft

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Als im 5. Jahrhundert die letzten Römer das heutige Oberbayern verließen, bildete sich aus germanischen Stämmen unterschiedlichster Herkunft ein neues Volk - die Bajuwaren. Die Vorfahren der Bayern haben bei Erding ein riesiges Gräberfeld hinterlassen. "Die Geschichtsbücher mussten umgeschrieben werden", sagt der Archäologe Harald Krause

Von Alexandra Maier

Kinder spielen draußen Schatzsucher und Entdecker. Sie träumen von Abenteuern und dem großen, geheimnisvollen Fund. Genau so sind die fünf Freunde Gerhard Fischer, Hermann und Thomas Schöberl, Robert Reiter und Manfred Schneider vor bald schon 50 Jahren losgezogen und haben an einem Julinachmittag einen Fund gemacht, der die Wissenschaft aufrütteln sollte: das Kletthamer Reihengräberfeld, das größte seiner Art in Süddeutschland und europaweit eines der bedeutendsten Zeugnisse aus den schriftarmen Jahrhunderten zwischen Völkerwanderung und Frühmittelalter.

Der Archäologe Harald Krause sitzt auf der Parkbank unter den zwei großen Platanen an der Ecke Merowingerstraße/ Moosinninger Straße und lässt den Blick schweifen. "Das hier ist wirklich historischer Boden. Einzigartig in ganz Bayern", sagt er. Krause beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Frühgeschichte Erdings und dabei natürlich auch mit dem Kletthamer Reihengräberfeld. Aus einem Zeitfenster von fast 250 Jahren stammen die Funde, die hier gemacht wurden. Die ältesten gehen zurück bis auf die Mitte des 5. Jahrhunderts, um 700 hören die Bestattungen schließlich auf. Für Krause ist die Archäologie immer nur eine "Annäherung an die historische Wirklichkeit", denn trotz der tiefschürfenden Forschungen in den vergangenen Jahren - das Kletthamer Gräberfeld lässt noch immer Fragen offen.

Um die Bedeutung der alten, rostigen Schwerter und der Totenschädel haben die fünf Jungs damals natürlich nicht gewusst, als sie bei Mutter Schöberl damit ankamen. Die tat aus historisch-wissenschaftlicher Sicht das einzig Richtige und informierte den damaligen Kreisheimatpfleger Eugen Press. "Ihm war gleich klar, dass hier etwas Wichtiges gefunden wurde", sagt Krause. Im Museum Erding liegt noch heute ein Band mit handschriftlichen Aufzeichnungen von Press. "Mit dabei ist auch der Notizzettel, der den Anruf der Mutter dokumentiert. Für uns heute ist das auch ein kleiner Schatz."

Doch was die fünf Freunde beim Spielen entdeckten, war erst der Anfang. Weil das Landesamt für Denkmalpflege keine Mittel zur Verfügung hatte, wurde Press mit einer sogenannten Notbergung beauftragt.. Schnell zeigte sich, dass es nicht bei den paar Funden bleiben würde. Die Jungen waren auf einen riesigen Friedhof gestoßen. Die Ausmaße konnte man damals noch nicht abschätzen. Heute weiß man, nach viel Forschung und akribischer Detailarbeit, einiges mehr. Von "hochkarätiger Landesgeschichte" spricht Krause. Die Funde aus dem Kletthamer Reihengräberfeld sind seither für Archäologen, Anthropologen und Historiker gleichermaßen interessant. "Die Geschichtsbücher mussten umgeschrieben werden", sagt Krause. Bis in die 1960er Jahre ging die Geschichtsforschung, gestützt auf Schriftzeugnisse, davon aus, dass die Bajuwaren erst im 6. Jahrhundert und später in der Region auftauchten, wobei alleine der Begriff "Bajuwaren" lange als strittig galt. Mit Hilfe der Funde aus Klettham musste der Gang der Geschichte revidiert werden. Denn dort fanden sich Gräber, die bereits in die Mitte des 5. Jahrhunderts datieren.

Alemannen, Langobarden, Thüringer und Einwanderer aus Böhmen, sie alle ließen sich im Raum Erding nieder. "Eine richtige Multikulti-Gesellschaft", sagt Krause. "Aus ihr erwuchs diese neue Identität, die wir heute als Bajuwaren bezeichnen." Und sie alle brachten ihre Traditionen mit, was die Archäologen anhand der Funde nachweisen konnten: "Durch Stoffreste, Waffen, Schmuck und andere Grabbeigaben verraten sie uns heute, woher sie kamen." Damit lieferte das Kletthamer Reihengräberfeld auch ganz neue Ansatzpunkte zur Ethnogenese, der "Volkswerdung", der Bajuwaren.

Ausgrabungen förderten von 1966 an mehr als 2000 Gräber zu Tage. Neben den sterblichen Überresten der frühmittelalterlichen Erdinger fanden die Archäologen wertvolle Grabbeigaben: Schwerter, Schilde, Lanzen und Schmuck. Die Wissenschaft geht von etwa 2200 bis 2400 Grablegungen aus. "Leider ist durch verschiedene Baumaßnahmen immer wieder etwas zerstört worden", sagt Krause. 1965, als die fünf Buben die ersten Schädel und Schwerter fanden, gab es noch kein Denkmalschutzgesetz. Man war gerade dabei, das gesamte Areal um die Parksiedlung zu erschließen, der Kanalschacht für die spätere Herzog-Tassilo Realschule war bereits ausgehoben. Als endlich ein Termin mit den Verantwortlichen vom Landesdenkmalamt gefunden war, fanden sich die Herren im Anzug einer Planierraupe gegenüber, die bereits begonnen hatte, die oberste Schicht abzutragen. "Die Straße wurde vor ihren Augen weggeschoben. Eine Ironie der Geschichte", sagt Krause. So gingen viele Puzzlestücke verloren, auch bei späteren Baumaßnahmen in der Siedlung wurde nicht immer Rücksicht auf die Archäologie genommen. Krause ist sich sicher, dass "unter den Wohnzimmertischen und Gemüsebeeten" noch vieles verborgen liegt. Seitdem Archäologie und Naturwissenschaften Hand in Hand arbeiten, lassen weitere Ergebnisse die Fachwelt aufhorchen. So ist es gerade erst gelungen aufgrund von DNA-Analysen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den im Erdinger Reihengräberfeld Bestatteten festzustellen. Darüber hinaus konnte dort erstmalig in der Region die Justinianische Pest nachgewiesen werden. "An der Stelle ist es aber wichtig zu betonen, dass das Gräberfeld kein Massengrab war. Dieser falsche Schluss könnte in dem Zusammenhang schnell gezogen werden", sagt Krause.

Die Siedlung war keine Metropole, dessen ist sich die Forschung sicher. Nur etwa 200 bis 300 Menschen sollen dort gleichzeitig gelebt und über Generationen hinweg ihre Toten bestattet haben. Die Archäologen nehmen an, dass die Menschen auf Gehöften rings um das Gräberfeld lebten. "Eines, das vielleicht dazu gehören könnte" - der Archäologe formuliert es noch recht vorsichtig - wurde heuer östlich der Sigwolfstraße entdeckt.

Im Schatten der Platanen klappt Krause sein Buch zu. "Ich mag diesen Platz", sagt er. "Hier ist es schön schattig und nicht zu hektisch." Seit 2012 steht nun auch der Gedenkstein für das Gräberfeld am richtigen Platz. An der Ecke Merowingerstraße/ Moosinninger Straße, unweit der Herzog-Tassilo Realschule - schon die Namen verraten es: Wo sonst könnte man Geschichte "echter erleben und vermitteln?"

Am Dienstag: Im 6. Jahrhundert bauten die Bajuwaren ihre Dörfer - wie in Kirchheim

© SZ vom 25.08.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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