Mitten in Grünwald:Hermine gesucht

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Zu Zeiten Hermann Hesses war, wer nicht tanzen konnte, ein armer Tropf. Ganz anders beim Dorffest in Grünwald

Von Claudia Wessel

In den Zeiten des Steppenwolfs - Hermann Hesse schrieb den Roman 1927 - galt es als Inbegriff von leichtsinnigem Leben, oberflächlichem Amüsement und vielversprechendem Kontakt zwischen den Geschlechtern zu tanzen. Der einsame Held Harry Haller, der in seinem Kämmerlein das Elend der Welt in sich rumoren lässt, wird von einer gewissen Hermine in die Freuden des Foxtrotts und seine Anwendung auf dem Parkett in zahlreichen verruchten Lokalitäten eingeführt - eine Flucht aus seinem Elfenbeinturm, die ihm nicht schlecht gefällt. Der Roman soll in gewisser Hinsicht autobiografisch sein, wie Literaturkritiker wissen. Als Hesse den Roman schrieb, hatte er nämlich Kniebeschwerden und konnte nicht mehr tanzen. Was er mit dem Roman womöglich aufarbeiten musste.

Kurz gesagt: Wer nicht tanzen konnte, war ein armer Tropf. Heutzutage aber hat sich die Leichtsinnigkeit der Jugend auf gänzlich andere Bereiche verlagert, wie nicht zuletzt das Dorffest in Grünwald beweist. Hier war die wunderbare Band Cagey Strings im Festzelt auf der Bühne und ließ von 17 Uhr an ihre bewegungsfreudigen Songs erschallen. Echte Follower waren natürlich zugegen und von zirka 17.05 Uhr bis 22 Uhr so gut wie alleine auf der Tanzfläche. Es gab da noch ein weiteres Paar im mittleren Alter sowie ein paar Damen, die miteinander schwoften und einen Herrn, der seine Dame hüpfenderweise übers Parkett schwang. Die blutjunge Jugend dagegen, die an diesem Abend 88 Prozent der Zeltbesucher ausmachte, saß und stand relativ unbeweglich auf den Bierbänken. Erst gegen 22.05 Uhr waberte eine Masse von ihnen auf die Fläche, die sich in einer Art gemeinsamem Tanz zu dem Lied mit dem Bobfahren bewegte. Um 23 Uhr war dann Feierabend, die Cagey Strings mussten aufhören.

Richtig verwunderlich waren aber erst die beiden etwa 18-jährigen Gentlemen, die sich in einer Tanzpause näherten. Beide reichten dem verschnaufenden Tanzpaar die Hand, zur Begrüßung, zum Abschied, stellten sich namentlich vor, fragten nach Namen und äußerten großes Lob über die erstaunlichen Dinge, die man auf der Tanzfläche vollbracht habe. Ein leibhaftiger Discofox, sie konnten es kaum glauben und fragten, wo sie so etwas denn wohl lernen könnten. Zumindest von ihrem guten Benehmen her hätten die zwei also auch gut in die Zeit des Steppenwolfs gepasst. Fehlt nur noch das richtige Auftreten auf dem Parkett. Vielleicht findet sich irgendwo für die beiden eine Hermine.

© SZ vom 09.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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