40 Jahre Gebietsreform:Liebe auf den zweiten Blick

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Kämpfer für den Erhalt des Landkreises: Altlandrat Joachim Gillessen mit seiner Nach-Nachfolgerin Johanna Rumschöttel (Foto: Claus Schunk)

Aus ehemals 39 Städten und Gemeinden wurden vor 40 Jahren 29 - der Beginn erfolgreicher Zweckgemeinschaften. Zuvor hatten Einwohner und Kommunalpolitiker die geplante Zerschlagung des Landkreises München verhindert.

Von Stefan Mühleisen

Joachim Gillessen kann sich noch heute ziemlich aufregen, wenn er an den 10. Februar 1971 denkt. "Das ist völlig inakzeptabel", gibt er seine Worte wieder, die er damals in den Sitzungssaal der Regierung von Oberbayern an der Münchner Maximilianstraße hineingerufen hat. "Sie werden einen Sturm der Entrüstung auslösen, habe ich denen noch gesagt", knurrt Gillessen, damals CSU-Landrat des Landkreises München und inzwischen 83 Jahre alt. Er sollte recht behalten.

An diesem Tag drängen sich Landräte und Oberbürgermeister aus ganz Bayern in jenem Sitzungssaal. Fassungslos hören sie zu, wie Innenminister Bruno Merk (CSU) vor einer großen Landkarte einen gewaltigen Verwaltungsumbau im Freistaat verkündet: die bayerische Gebietsreform. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts hatte es einen solchen fundamentalen Umbau der Verwaltungsgeografie im Freistaat nicht mehr gegeben. Gemeinden, Landkreise und Bezirke sollten grundlegend neu angeordnet werden. Das Ziel der Staatsregierung: die Gebietskörperschaften neu zuzuschneiden und sie damit leistungsfähiger zu machen. Bevölkerungsstärke, Steuerkraft, geografische Ausrichtung - als gestärkte administrative Einheiten sollen Kreise, Kommunen und kreisfreie Städte aus der Reform hervorgehen.

Doch die Betroffenen befürchten das Gegenteil, sie sehen ihre schiere Existenz gefährdet. "Es war erschreckend", beschreibt Gillessen rückblickend die einhellige Auffassung der Landräte und Bürgermeister zu den Plänen der Staatsregierung. Schon bei der Verkündung des Reformprojekts an jenem denkwürdigen 10. Februar gibt es wütende Reaktionen. "Das lassen wir uns nicht bieten", sollen gleich mehrere Landräte geschrien haben. Und so kommt es dann auch. Ein hartes, jahrelang andauerndes politisches Ringen beginnt.

Schon zwei Wochen später bricht sich die Empörung bei der Sitzung des Kreistages Bahn, dokumentiert in einem ganzseitigen Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 19. Februar 1971. Der Landtagsabgeordnete und Kreisrat Erich Zeitler (SPD), zugleich Bürgermeister Ismanings, zetert vom "größten Unsinn, der jemals verzapft worden ist". Das ist der Ton, der sieben Stunden lang die äußerst heftige Debatte beherrscht.

Dem Landkreis droht die Zerschlagung

Die Fraktionen sind sich einig: Es geht um das Überleben des Landkreises; es drohe die Zerschlagung einer bewährten politischen und auch sozialen Einheit. Dabei verschärft sich das Vokabular immer mehr, zum Schluss herrscht Kriegsrhetorik. Die Politiker erklären die Versammlung zur "historischen Sitzung", es kommt zu vaterländisch anmutenden Verteidigungsschwüren. "Wir werden um jeden Quadratmeter unseres Landkreises kämpfen", sagt Zeitler grimmig.

Landrat Gillessen gibt den entschlossenen General, der die Legionen um sich schart. "Wir stehen mit dem Rücken an der Wand", sagt er. Und weiter: "Wir können jetzt keine Rücksicht mehr auf unsere Nachbarn nehmen." In Fürstenfeldbruck, Starnberg, Wolfratshausen denken sie genauso. Ein monatelanges Hauen und Stechen um Gebietsansprüche nimmt seinen Lauf.

Die Aufregung ist durchaus verständlich. Schließlich will die Staatsregierung gewachsene Strukturen auflösen. Innenminister Merk will vor allem die Ringlandkreise - wie eben auch der Kreis München einer ist - aufbrechen und in kuchenstückförmigen Sektoren mit der Spitze zur Kernstadt neu anordnen. Das Ministerium präsentiert zunächst zwei Varianten: Bei der Nummer eins sollen die Gemeinden Garching, Unterföhring, Dornach und Neuried in die Landeshauptstadt integriert werden.

Vorgesehen ist zudem, Ober- und Unterschleißheim in den Kreis Freising, die Gemeinden Ismaning, Aschheim, Kirchheim, Heimstetten und Feldkirchen in den Landkreis Erding einzugliedern; Haar, Putzbrunn, Grasbrunn und Harthausen werden dagegen Ebersberg, die Gemeinden Gräfelfing und Planegg (mit Forst Kasten und Forstenrieder Park) dem Landkreis Starnberg zugesprochen. Dafür hätte der Landkreis München 33 Gemeinden vom Kreis Wolfratshausen, fünf von Miesbach und eine Kommune aus dem Kreis Bad Aibling erhalten.

Die Variante zwei soll München ebenfalls Garching, Unterföhring und Dornach einverleiben; Ober- und Unterschleißheim sollen zu Dachau kommen, Ismaning, Aschheim, Kirchheim, Heimstetten und Feldkirchen zum Kreis Erding; Starnberg bekommt Gräfelfing, Planegg, Pullach und Grünwald sowie Forst Kasten und den Forstenrieder Park. Im Gegenzug fallen 23 Ebersberger Gemeinden in den neuen "Sektorlandkreis", dazu drei aus Wolfratshausen, fünf aus Miesbach und zwei aus Bad Aiblinger Gebiet.

Zur Begründung heißt es von der Regierung von Oberbayern, dass dies "strukturell ausgeglichene Landkreise" seien, die nicht nur aus Stadtrandgemeinden mit Wohnfunktion bestünden, sondern die selbst Gemeinden mit zentraler, gewerblicher oder landwirtschaftlicher Funktion hätten. Doch diese Reform von oben stößt auf erheblichen Widerstand von unten. "Ein Kreisbewusstsein trat zutage, von dem vorher niemand geahnt hätte", notierte der Jahresbericht des Landkreises (Landkreisbuch) von 1979. Landrat, Kreisräte, Stimmkreisabgeordnete verschicken Eingaben; in den Gemeinden drängen sich Hunderte Bürger bei Versammlungen und protestieren ungehalten.

Zeitgleich gibt es Spannungen mit den Nachbarn. Der Kreis Starnberg meldet selbst Gebietsansprüche auf die Würmtalgemeinden an. Gillessen nennt das damals in einem offenen Brief an den Starnberger Landrat einen "noch nicht vorgekommenen unfreundlichen Akt". Innenminister Merk lässt sich auf Drängen Gillessens auf einen Deal ein - wobei diesem zupass kommt, dass er Merk aus seiner Zeit als Oberregierungsrat in der Kommunalabteilung des Innenministeriums gut kennt: Gillessen trotzt seinem ehemaligen Chef die Zusicherung ab, dass die Bürger selbst entscheiden dürfen, welchem Landkreis sie angehören sollen.

Die Regierung von Oberbayern hat da längst weitgehend eingelenkt, es geht nur noch um die Abspaltung von Garching, Ober- und Unterschleißheim nach Freising sowie Gräfelfing, Neuried und Planegg nach Starnberg. Es kommt zu Volksabstimmungen - mit überwältigenden Ergebnissen für den Verbleib im Kreis München. "Es war ein Riesenerfolg", sagt Gillessen.

Denn der Landkreis bleibt damit als Ring um die Großstadt nicht nur erhalten, er wächst sogar mit neun Gemeinden aus den Kreisen Wolfratshausen und Bad Aibling (Arget, Baierbrunn, Dingharting, Eichenhausen, Helfendorf, Oberbiberg, Sauerlach, Schäftlarn und Straßlach) auf 663 Quadratkilometer. Zum 1. Mai 1974 leben damit 216 000 Menschen in den nunmehr 39 Gemeinden auf Landkreisgebiet.

Allerdings ist die Reform damit noch nicht abgeschlossen: Bis zum 1. Mai 1978 zimmert das Landratsamt mit der Bezirksregierung eine "gemeindliche Neuordnung": Aus 39 Kommunen werden schließlich 29. Dornach wird nach Aschheim eingemeindet, Harthausen nach Grasbrunn, Siegertsbrunn nach Höhenkirchen, Heimstetten kommt unter das Gemeindedach von Kirchheim, Laufzorn und Oberbiberg werden Ortsteile von Oberhaching, Lanzenhaar, Arget und Eichenhausen Teil von Sauerlach.

Viele Orte bewahren ihre eigene Identität

Für manche, einst selbständige Dörfer ist das bis heute bitter, der Verlust der Eigenständigkeit ist nicht vergessen - und die örtlichen Eigenheiten werden weiter liebevoll gepflegt: Die Ortsverbände der politischen Parteien achten zum Beispiel oft penibel darauf, dass von den einst selbständigen Ortsteilen nach Proporz Mitglieder auf den Wahllisten für den Gemeinderat vertreten sind; die Erinnerung an die Autonomie lebt weiter im Fortbestand der einzelnen Freiwilligen Feuerwehren - und in den Festen. Die Harthauser etwa veranstalteten einen Riesenrummel um ihre 1200-Jahr-Feier.

In der Rückschau dürften die meisten Landkreisbürger es dennoch als Gewinn verbuchen, dass sie weiter Teil des unmittelbaren Münchner Umlandes sind - und ihre Gemeinde nicht zu einem weiteren Stadtteil Münchens wurde. Und aus der Zwangsheirat wurde vielerorts, wenn schon nicht eine Liebesbeziehung, so doch eine gewinnbringende Zweckgemeinschaft. "Die Gebietsreform ist eine Erfolgsgeschichte", zeigt sich Ex-Landrat Gillessen überzeugt. Die kleinteilige Verwaltungsstruktur hält er für einen erheblichen Gewinn, vor allem für die Bürger. "Das fängt beim Schneeräumen an. Pullach ist im Winter schon blank geputzt, bevor sie in München anfangen zu räumen."

Auch aus soziologischer und wirtschaftlicher Sicht wird das Ergebnis der Gebietsreform als gelungen bewertet. Nach der Einschätzung von Hermann Rumschöttel, Historiker und ehemaliger Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns und zudem Ehemann von Gillessens Nach-Nachfolgerin Johanna Rumschöttel (SPD), ist der Landkreis München ein "konstituierendes Element" für die Boomregion rund um die Metropole München.

In allen Rankings werde der Landkreis München als besonders lebenswert, innovativ und dynamisch beurteilt, konstatierte Rumschöttel in einem Aufsatz, gut 30 Jahre nach Abschluss der Gebietsreform. Und weiter: "Dazu trägt sicherlich bei, dass trotz aller mit der Modernisierung verbundenen Nivellierung der Landkreis und seine Gemeinden ihre Identität nicht verloren haben." Vom Flugzeug aus erkenne man nicht mehr als den ausgefransten Rand einer Großstadt. "Geht man aber in die Gemeinden und Städte, so erlebt man 29 Persönlichkeiten."

Dieser Text ist der Auftakt der SZ-Serie "Zusammengerauft". Sie beleuchtet, wie die zwangsvereinigten Orte seither zueinander gefunden haben. In der nächsten Folge erinnert sich Aschheims Alt-Bürgermeister Helmut Englmann im Interview.

© SZ vom 05.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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