SZ-Serie: "Meisterhaft", Folge 5:Gut eingesessen

Lesezeit: 4 min

Seit mehr als 120 Jahren führt die Familie Mayr in Dachau eine Polsterei. Dort werden alte Sofas, Sessel und Stühle wieder in Form gebracht. Mit dem Aufarbeiten verschlissener Stücke schafft sich der Meisterbetrieb eine Nische und trotzt so den großen Möbelmärkten

Von Sebastian Jannasch, Dachau

Siegfried Mayr muss sich konzentrieren. Mit ruhiger Hand und geübten Fingerbewegungen näht er eine schnurförmige, wulstige Kante an die Sitzfläche eines Sessels. Dieser ist ganz nackt, der Bezug heruntergeschält, die Innereien aus Leinen, Baumwollnessel und Watte offengelegt. Siegfried Mayr arbeitet daran, dem Sessel ein neues Kleid zu geben. Um ihn herum stehen meterweise Stoffe, eine Nähmaschine, Hämmer und Nagelheber. Es sind Instrumente, die ein Polsterer braucht, um aus einem abgesessenen und verschlissenen Sessel wieder ein komfortables Sitzmöbel zu machen.

Seit mehr als 120 Jahren sind die Mayrs Polsterer in Dachau. Im Jahr 1893 war es der Großvater von Siegfried Mayr, der den Familienbetrieb gründete. Auch Siegfried Mayrs Sohn widmet sich in vierter Generation der Aufgabe, Menschen möglichst gemütlich sitzen, liegen und fläzen zu lassen. Der Titel, der über dem Eingang steht, hat sich im Verlauf der Jahrzehnte ein paar Mal geändert: "Zu Beginn nannten wir uns Sattler, dann Tapezierer, nun sind wir Raumausstatter", sagt Siegfried Mayr. Der Name wechselte, ein paar Aufgaben kamen hinzu, andere fielen weg, aber das Handwerk, aus einem Holzgestell, Sprungfedern und Füllmasse eine bequeme Sitzfläche zu erstellen, haben sie immer beherrscht.

Zwar hat Siegfried Mayr, drahtig, hellblaue Strickjacke, bunt gestreiftes Hemd, das laufende Geschäft schon vor einigen Jahren an seinen Sohn übergeben, doch noch immer reizt den 83-Jährigen die Arbeit mit Möbelstücken und Stoffen so sehr, dass er regelmäßig in der Werkstatt mithilft. Er wolle nicht nur zu Hause auf der - natürlich selbst bezogenen - Couch sitzen, sondern daran arbeiten, dass es auch andere gemütlich haben.

In den vergangenen Jahrzehnten hat Mayr das Auf und Ab des Polsterhandwerks miterlebt. Nach dem Krieg führten die Mayrs ein Möbelgeschäft in der Dachauer Altstadt. Der Verkauf von Sofas, Sesseln und Stühlen lief blendend. Der Bedarf war hoch - und die Menschen waren bereit, für Möbel ihr Erspartes auszugeben. Das änderte sich, als große Möbelmärkte aufkamen, die das Angebot kleiner Polsterer weit übertrafen, deren Preise unterboten und ihnen die Kunden abjagten. "Im Vergleich zu heutigen Möbelhäusern war unser Angebot sehr klein. Ich bin sicher, dass wir heute nicht mithalten könnten", sagt Mayr. Auch Gardinen und Tapeten, die sie im Sortiment hatten, besorgen sich Heimwerker heute vor allem im Baumarkt und nicht mehr beim Polsterer.

Mayr sattelte bereits in den Siebzigerjahren um. Er schuf sich eine Nische: Statt mit Möbeln zu handeln, spezialisierte er sich auf das Aufarbeiten alter Stücke und die Gestaltung der Räume, in denen die Möbelstücke stehen. Textiltapeten und Fensterdekorationen gehören auch zu Mayrs Repertoire. Statt auf großen Absatz setzt er auf individuelle Wünsche.

Zu den Kunden zählen Liebhaber älterer Möbel, die ihre abgewetzten, aber wertvollen Familienstücke nicht wegwerfen wollen. Kunden, denen es nicht egal ist, ob sie auf Sprungfedern oder Schaumstoff, auf Kunstfasern oder Velours sitzen - und die deshalb weniger auf den Cent schauen. Je nach Ansprüchen kann die vollständige Aufarbeitung eines Sessels mehrere Hundert Euro kosten. Da Mayrs Werkstatt in einem Hinterhof liegt, gibt es kaum Laufkundschaft. "Wir haben viele Stammkunden, die schon lange zu uns kommen", sagt Mayr. Für viele jüngere Leute hätten Möbel dagegen keinen hohen Stellenwert mehr. Angesichts der Preise der großen Möbelmärkte mag sich heute kaum jemand mehr damit abmühen, das muffige Eichenholzsofa der Oma wieder in Form und Farbe bringen zu lassen. Zumal wenn der Neukauf nur wenig teurer ist. "Für Möbel zu sparen, ist nicht mehr üblich. Wenn der Stoff auseinanderfällt, wird eben eine neue Garnitur angeschafft", sagt Mayr.

Aber nicht nur als Kundschaft fallen die Jüngeren weg. Auch als Nachfolger im Handwerk des Polsterers sind Schulabgänger kaum zu gewinnen. "Es gibt sehr wenige, die wirklich Interesse daran haben, Polsterer zu werden. Häufig ist es die letzte Option, wenn sich nichts anderes finden lässt", sagt Polsterer-Meister Mayr. Dabei sei der Beruf sehr abwechslungsreich, erfordert Fertigkeiten vom passgenauen Zuschneiden und Nähen der Stoffe, dem Einbau der richtigen Federung bis hin zur kreativen Auswahl von Bezügen und Mustern. Auch Tapezieren und Bodenlegen gehört in vielen Betrieben dazu.

Neben Fingerfertigkeit brauche man vor allem ein Gespür für Farben, sagt Mayr. Man müsse wissen, was miteinander harmoniert. Schließlich sollen Couch, Vorhänge und Teppich zusammenpassen. In seiner Schaffensphase hat Mayr viele Trends und Strömungen kommen, gehen und wiederkommen gesehen. "Nach dem Krieg gab es etwa eine große Teak-Welle. Das wiederholte sich später." Retro ist eben in. Entsprechend lassen sich einige von Mayrs Kunden regelmäßig ihr Sofa in einem neuen Stil beziehen. Bei Stoffen und Mustern gibt es kaum Grenzen, höchstens finanzielle: Ein Meter von hochwertigem Mohair-Velours kann 160 Euro kosten.

In seinem Berufsleben sind viele Möbel durch Mayrs Hände gegangen. Sein Lieblingsstück war ein englisches Sofa, das lange als Ausstellungsstück in seinem Laden stand. Dieses Sofa wies eine Besonderheit auf, die besonderes handwerkliches Geschick erfordert: die Heftung. Dabei handelt es sich um eine ausgefallene Modellierung des Polsters, wie sie zum Beispiel an der Rückenlehne von antiken Ledersesseln üblich ist. Dabei muss der Bezugsstoff so in Vertiefungen gezogen und mit Knöpfen fixiert werden, dass sich dekorative, kleine Kissen in Form von Rauten, Quadraten oder Rechtecken abheben. Das verleiht Salonsesseln einen edlen Charme.

Die Vorliebe für schöne Möbel und feine Stoffe legt Mayr auch außerhalb der Werkstatt nicht ab. Kunststoff- und Plastikmöbel kämen ihm nicht ins eigene Wohnzimmer. Um es behaglicher zu machen, hat Siegfried Mayr sogar seine Türen mit Leinenstoff bespannt. Die Dekorationsideen gehen ihm so schnell nicht aus.

Die Ausbildung zum Raumausstatter und zum Industriepolsterer ist an der Städtischen Berufsschule für Holztechnik und Innenausbau München möglich. Informationen unter www.bshi.musin.de.

© SZ vom 08.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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