Kundgebung:Blau ist die Hoffnung

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"Wir können nicht herumsitzen, wenn die Nachrichten so schrecklich sind": 500 Menschen demonstrieren in München für ein gemeinsames Europa. Alt-Oberbürgermeister Christian Ude wettert gegen die Staatsregierung, wirbt aber auch um Verständnis für die Wähler in Ungarn oder Italien

Von Jakob Wetzel

Helmut Pfleger ist nicht zum ersten Mal dabei, doch jetzt, sagt er, sei es notwendiger denn je. Der 74-Jährige ist als Schachgroßmeister bekannt geworden, heute aber geht es ihm nicht um Bauernopfer oder Damentausch, sondern um Europa. Pfleger steht vor dem Siegestor, er trägt eine blaue Kappe mit den Sternen der Europäischen Union, er hat sich eine EU-Fahne als Umhang umgeworfen, und selbst aus seinem Rucksack ragt ein kleines Fähnchen. In wenigen Minuten wird er die Ludwigstraße entlang zum Max-Joseph-Platz ziehen, um ein Zeichen zu setzen. "Die Zeiten sind im Moment dermaßen gefährlich", sagt er. "Ich fürchte einen Rückfall in Zeiten, die wir hier schon einmal erlebt haben", und das sei auch Schuld der bayerischen Staatsregierung. Unsäglich sei deren Verhalten, findet er. "Ich hoffe, dass ihr bei der Landtagswahl die Rechnung präsentiert wird."

Ein breites Bündnis aus pro-europäisch gesinnten Organisationen und Parteien hat am Samstag dazu aufgerufen, für die europäische Einigung und gegen Nationalismus und Populismus auf die Straße zu gehen. Auf den Tag genau zwei Jahre nach dem Brexit-Referendum in Großbritannien sollte ein "March for a new Europe" durch mehrere europäische Großstädte zeigen, dass die europäische Idee noch nicht am Ende ist. Demonstrationen fanden unter anderem in London, Kopenhagen, Berlin und Brüssel statt. In München sind laut Polizei etwa 500 Menschen dem Ruf der Organisatoren gefolgt.

Begleitet wurden die Demonstranten von einem weißen Doppeldecker-Bus mit Lautsprechern, der für die richtige Klangkulisse sorgte. (Foto: Catherina Hess)

Es ist ein blaues Fahnenmeer, dass sich kurz nach Mittag Richtung Feldherrnhalle in Bewegung setzt, mittendrin ein weißer Doppeldecker-Bus mit Lautsprechern, der seiner Aufschrift "München bebt, Europa lebt!" alle Ehre macht. Im Rhythmus der Musik rufen die Demonstranten "Vivat Europa", "Europe, United!" und "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns Europa klaut". Sie sind nicht übermäßig viele, aber sie sind nicht zu überhören. Ihr Weg führt sie zwar nicht an Markus Söders Staatskanzlei vorbei, aber dafür an den Wahlplakaten einer Splitterpartei, die mit Losungen wie "Eurogeddon" und "Freiheit statt EU-Zentralismus" um Stimmen wirbt.

Am Max-Joseph-Platz wartet Michael Bögl am Stand von "Pulse of Europe"; der Verein ist einer der Veranstalter der Demonstration. Bögl verteilt Aufkleber, Handzettel und kleine EU-Fähnchen. Es gehe darum, Emotionen zu wecken, sagt er. Und dass die Farben der EU nicht mehr nur für Verordnungen über den Krümmungsgrad von Gurken stünden und man sie mittlerweile wieder selbstbewusst herzeigen könne, das sei ein Erfolg.

Ein gemeinsames Programm aller Organisatoren gibt es nicht; den einen geht es so wie "Pulse of Europe" um die europäischen Werte, darum, dass die Grundrechte beachtet und Prinzipien wie die Rechtsstaatlichkeit eingehalten werden. Andere gehen weiter. Das "Democracy in Europe Movement 2025" um den früheren Finanzminister Griechenlands, Yanis Varoufakis, fordert gar einen gemeinsamen europäischen Haushalt. Doch die meisten wünschen sich ein reformiertes Europa, eine Union, die über das bisher vertraglich Geregelte weit hinausgeht.

Blau mit Sternchen: Auffallen ist alles. (Foto: Catherina Hess)

Auf der Bühne vor dem Nationaltheater macht Christian Ude den Demonstranten später Mut. Eine Mehrheit in der Bevölkerung stehe hinter Europa, sagt der SPD-Politiker und frühere Oberbürgermeister Münchens. "Leider gibt es lärmende Widersacher, die mit viel Krach und Krawall den Eindruck erwecken, die Menschen hätten die Nase voll von Europa. Nein! Sie haben die Nase voll von den Krawallmachern!"

Zugleich aber wirbt Ude auch um Verständnis. Die Deutschen müssten herunterkommen von ihrem hohen Ross, fordert Ude. Wenn ein Staat den Rechtsstaat untergrabe, dürfe es nur Härte geben. Aber man sollte Ungarn nicht scheinheilig dafür abkanzeln, dass das Land die Balkanroute für Flüchtlinge geschlossen habe, wenn Deutschland selber davon profitiere. Die Deutschen sollten sich auch nicht über Ungarn, Italien oder Polen erheben, auch wenn diese europafeindliche Parteien gewählt hätten. Ude erntet dafür erboste Zwischenrufe, aber er fährt unbeeindruckt fort: Die großen italienischen Parteien hätten sich durch Korruption selber unmöglich gemacht. Man dürfe nicht alle Wähler der "Cinque Stelle"-Bewegung zu Deppen erklären, "weil was hätten sie denn sonst machen sollen?"

Als Ude dann die bayerische Staatsregierung angeht, hat er das Publikum wieder uneingeschränkt hinter sich. Zu verlangen, einen Geheimplan durchzuwinken, den keiner im Wortlaut kenne, das dürfe man sich nicht bieten lassen, sagt er. Überdies bekenne sich kaum eine europäische Regierung so zu Europa wie diejenige von Angela Merkel. "Man kann nicht dabei zuschauen, wie diese Regierung von einem Koalitionspartner in die Luft gesprengt wird, weil der sich davon Erfolg bei der Landtagswahl im Oktober verspricht."

Rund 500 Demonstranten zogen am Samstag über die Ludwigstraße zum Max-Joseph-Platz. (Foto: Catherina Hess)

"Wir können nicht herumsitzen, wenn die Nachrichten so schrecklich sind", sagt auch Michael Bögl von "Pulse of Europe". Es sei viel zu tun, von Fragen der Grenzsicherung bis hin zu einer nötigen Reform des Europäischen Parlaments, das demokratischer werden müsse. Aber er sei hoffnungsvoll, "wir haben schon einiges erreicht", sagt er. Und er freue sich darüber, dass sich an diesem Samstag so viele junge Demonstranten beteiligen.

Zum Beispiel Cosima Hoppe. Die 17-Jährige ist vom Siegestor zum Max-Joseph-Platz gezogen, "weil es echt wichtig ist", sagt sie. Europa müsse zusammenstehen und eine Einheit sein. Die EU biete so viele Vorteile, sie zählt sie auf, spricht von den einfacheren Handelsbeziehungen und vom Frieden. Man könne viel leichter reisen, und da sei auch noch der Euro, ergänzt Ludovica Mohacsi, 19. Europa sei eine großartige Sache, auch wenn es Reformen brauche. Man denke nur an den Streit zwischen den Staaten über Flüchtlinge. "Die EU muss sich hinsetzen und diskutieren, was sie da eigentlich tut."

© SZ vom 25.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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