Kulturelles Erbe:Angst um Leben und Stein

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Die Archäologin Adelheid Otto hat in Syrien und im Irak viele Ausgrabungen geleitet. Entsetzt muss die Münchner Professorin nun der Zerstörungswut und dem Morden radikaler Islamisten zusehen. Ihre Geschichte ist ein Hilferuf an die Weltgemeinschaft.

Von Christiane Funke

Es ist unsäglich, einfach nur zum Heulen", sagt Adelheid Otto. Fast täglich erhält die Professorin, die an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München den einzigen Lehrstuhl Bayerns für Vorderasiatische Archäologie leitet, neue Hiobsbotschaften. Kollegen, mit denen sie weltweit vernetzt ist, informieren die Archäologin ständig über die verheerenden Zerstörungen antiker Stätten. Auf Satellitenbildern sieht sie das Ausmaß der Verwüstungen durch die Terroristen des sogenannten Islamischen Staats (IS). Zum Beispiel im Norden Syriens, wo Archäologen "mit viel Zeit und Mühe" die größten Stadtstaaten aus dem dritten Jahrtausend vor Christus, Mari und Ebla, für Touristen aufbereitet haben. Nur noch "Mondlandschaften" seien da heute zu sehen.

Auch Orte, an denen Otto selbst Ausgrabungen geleitet hat, wurden von islamischen Fundamentalisten verwüstet. Was in Syrien und im Irak passiere, raube ihr seit Monaten den Schlaf, erzählt die Professorin. "Das ist die Zerstörung des kulturellen Erbes nicht nur der Syrer und Iraker, sondern der gesamten Menschheit, dort liegen die Ursprünge unserer Zivilisation!"

Manchmal aber schämt sich Otto fast, dass sie sich so um die Antike sorgt. Das wirklich Schlimme sei ja die Katastrophe, die über die Menschen hereinbreche. Schließlich bräuchten nahezu alle Syrer Hilfe. "Die Vereinten Nationen werden ihrer Verantwortung nicht gerecht", moniert die große, schlanke Frau. Wie können wir helfen? Diese Frage hat sie sich im Jahr 2012 gestellt und mit anderen Archäologen den Verein "Syrienhilfe" ins Leben gerufen. Dank der Spenden werden zum Beispiel Flüchtlingslager in der Türkei unterstützt und Notoperationen finanziert. Die Arbeit sei ehrenamtlich, jeder Cent komme den Menschen zugute, betont Otto.

Besonders betroffen macht die Archäologin das Schicksal einiger Syrer, mit denen sie jahrelang zusammengearbeitet hat. In ihrem Büro in einem Gebäude an der Schellingstraße in Schwabing zeigt sie Fotos von "glücklichen Tagen", die ihr heute die Tränen in die Augen treiben. Es sind Bilder einer Grabung in Tall Bazi im Norden Syriens, wo sie mit ihrem Mann, dem Archäologen Berthold Einwag, und 30 Arbeitern von 1993 bis 2010 eine etwa 4400 Jahre alte Stadt der Bronzezeit freigelegt hat. Ein Foto zeigt sie, ihren Mann und ihre Kinder inmitten einer Gruppe lachender Einheimischer, die bei der Grabung geholfen haben. "Einige der Arbeiter sind von IS-Terroristen umgebracht worden, andere sind geflohen", erzählt Otto. Vor allem das Schicksal des Wächters der Grabungsstätte erschüttert sie. Auch er sei ermordet worden, zu seinem Schutz habe er nur eine Schrotflinte besessen. "Wie ein Vater" sei er für ihre Familie gewesen, ihre beiden Kinder haben während der Grabungen oft auf seinem Schoß gesessen. Auch die anderen Menschen, die sie in Nordsyrien kennengelernt hat, haben Otto wegen ihrer "unglaublichen Wärme und Gastfreundschaft" beeindruckt: "Die schlachten ihr letztes Huhn, um Sie einzuladen."

Viele Menschen an vielen Orten dieser Welt hat die gebürtige Tübingerin schon kennengelernt. Wien, München, Mainz, Paris, Berlin und Damaskus sind Stationen ihrer wissenschaftlichen Laufbahn, bevor sie im Oktober 2013 den LMU-Lehrstuhl für Vorderasiatische Archäologie übernahm. Dank eines Reisestipendiums des Deutschen Archäologischen Instituts bekam die Frau, die auch arabisch und französisch spricht, einen Einblick in das Leben verschiedener Kulturen im Orient. Von 1996 bis 1997 bereiste sie alle Länder im arabischen Raum, außer Kuwait und Saudi-Arabien. Forschungsaufenthalte und Grabungen in Syrien, Irak und Iran folgten.

Als ehemals eines der "friedlichsten Gebiete dieser Welt" hat die 49-Jährige aber die Region von Tall Bazi im Euphrat-Tal in Erinnerung, wo sie fast zwei Jahrzehnte das Leben uralter Kulturen erforschte. Ein Glücksfall. Dort fand die Archäologin nämlich Reste einer Zivilisation, die in einem Moment - vermutlich von den Hethitern durch Brandlegung - zerstört wurde, in dem sie noch funktioniert hat. Archäologen nennen das Phänomen "Pompeji-Prämisse". Unter Ottos Ägide als Grabungsleiterin wurden 50 Häuser freigelegt und wertvolle Gegenstände geborgen. "Wir konnten auch feststellen, dass und wie die Menschen dort um 1350 vor Christus Bier gebraut haben", sagt sie. Die antiken Werkstätten der Siedlung Tall Bazi erwiesen sich ebenfalls als Fundgruben, in der des Schmieds fanden sich Gussformen von Äxten, Waffen und Meißeln; bei einem Juwelier entdeckten die Arbeiter Edelmetallschmuck.

Der Wunsch, das Leben der Menschen von vor Tausenden Jahren zu ergründen, treibt Otto bei ihrer Forschung an. Dabei geht sie vor "wie ein Detektiv". Scherben, Werkzeuge und Gebäudereste sind Puzzleteile, aus denen sie mit ihrem Team den Alltag einer Zivilisation rekonstruiert. Geduld? Nein, die habe sie überhaupt nicht, erzählt die Professorin. Wenn es ihr während einer Grabung an einem Ort zu langsam vorangehe, renne sie zu einem "anderen Schnitt". Denn irgendwo gehe es immer voran, sagt die Archäologin, der es nicht viel ausmacht, im August bei 40 Grad zu arbeiten.

Wie wird gegraben? Zunächst schaufele der Vorarbeiter mit Hacken und Spaten Erdreich beiseite. "Ganz, ganz sorgsam" gehe es weiter, sobald fundreiche Schichten erreicht würden. Mit kleinen Kellen etwa oder Zahnarztbesteck. Einige Abgüsse von Artefakten, die so ans Tageslicht gefördert wurden, verwahrt Otto in ihrem Büro und in Vitrinen des benachbarten Seminarraums. "Diese, ihre Brüste haltende Göttin haben Privatleute für ein religiöses Ritual benutzt", erzählt sie, während sie ein kleines Figürchen aus einer Schublade holt. "Nur wenige Cent" brächten solche Figürchen auf dem Kunstmarkt, wo IS-Truppen sie verscherbelten, aber die Zerstörungen durch die dafür nötigen Raublöcher seien enorm. Viele solcher geraubten Artefakte gehen im Moment nach China, Deutschland oder in die USA, sagt Otto. "München ist eine Drehscheibe für den Handel mit Antiquitäten, deren Herkunft nicht immer zweifelsfrei erwiesen ist." Es heiße dann, die Objekte stammten "aus einer Privatsammlung".

Sachlich schildert die Archäologin, wie auch das Gebiet von Tall Bazi im Sommer 2014 durch Raubgrabungen, "vermutlich von IS-Leuten" verwüstet wurde. Wie angespannt sie ist, verraten ihre Hände, die ständig in Bewegung sind. So erzählt die Archäologin von dem schweren Gerät, mit dem die Erde auf der Suche nach Kunstobjekten umgepflügt werde. Die Verwüstung von Museen und Palästen im Orient, wie etwa in Hatra und Nimrud, findet sie "schlimm". Aber "mindestens genauso dramatisch" sei die Zerstörung von Erdhügeln, in denen sich Städte und Siedlungen verbergen, die man nie untersucht hat. Solche Vorfälle schafften es nicht in die Tagesschau, passierten aber seit drei Jahren jeden Tag. Viel hätte es noch für Otto und ihre Kollegen in Syrien zu entdecken gegeben. So berichtet sie etwa von einem Gebiet nahe Kobanê, in dem in zahllosen Ruinenhügeln raubgegraben wurde. Als einzige Archäologen hätten ihr Mann und sie dort gearbeitet und in den Jahren 1992 und 1993 insgesamt 200 noch nicht erforschte Stätten dokumentiert.

Auch in Tall Bazi hätte die Frau, die über die Ausgrabung der dortigen Siedlung habilitiert hat, gerne noch einen Palast erforscht. Ein Projekt, das sie nun nicht mehr realisieren kann. Die früher geborgenen Artefakte seien in einem Museum an einem sicheren Ort. Noch. Otto weiß, dass sich die Lage schnell ändern kann. Wie in Raqqa. Das archäologische Museum der Stadt am Euphrat hat die Münchnerin selbst mit eingerichtet. Viele altbabylonische Figurinen, Tontafeln und Siegel, die sie mit dem Team von Tall Bi'a am Stadtrand von Raqqa gefunden hat, räumte sie 1998 in Vitrinen. Bei der Einnahme der Stadt 2013 hätten IS-Terroristen nun auch diese Vitrinen im Museum zertrümmert.

Mit der Vernichtung antiker Schätze wird den Syrern laut der Archäologin die kulturelle Identität geraubt. Und oft auch ihre wirtschaftliche Basis, wenn etwa Touristenmagneten wie in Hatra, Nimrud und Palmyra zerschlagen würden. Von den vielen Verlusten macht Otto einer besonders wehmütig: "Die Verwüstung von Aleppo, der seit 3000 vor Christus besiedelten und damit ältesten kontinuierlich bewohnten Altstadt der Welt, mit noch intakten Moscheen und Karawansereien." Diese "schönste aller alten orientalischen Altstädte" sei nun zu 70 Prozent zerstört.

Aus Aleppo erreichte Otto auch ein Hilferuf. "Tut doch irgendetwas, schickt einfach Geld, damit wir die Vitrinen betonieren können!", habe der Direktor des dortigen archäologischen Museums sie angefleht. Otto verwies auf die Zuständigkeit der Unesco. "Aber die leistet viel zu wenig Hilfe in der Region", sagt sie.

Ärgerlich macht Otto in diesen Zeiten vieles. Auch der Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland. Wie der ist, erläutert sie am Beispiel eines ihrer Studenten. Aus Damaskus sei er 2014 über Bulgarien nach Deutschland geflohen. Nun solle er wieder abgeschoben werden, nach Bulgarien, in das Erstaufnahmeland. "Ja, wie soll er denn hierher kommen, soll er schwimmen?", empört sich Otto. In zehn Briefen habe sie Behörden mitgeteilt, dass sie den syrischen Archäologiestudenten als Übersetzer brauche. Die Briefe seien wahrscheinlich nicht einmal gelesen worden.

Bei all den Hiobsbotschaften gibt es auch kleine Lichtblicke. So hofft Otto, im September 2015 ein neues Ausgrabungsprojekt beginnen zu können. Südöstlich von Mossul. Dort will sie Geheimnisse einer unerforschten Siedlung des vierten und zweiten Jahrtausends vor Christus lüften. Ein kurdischer Kollege, der gerade zu Besuch war, hat ihr Hoffnung gemacht, dass das Gebiet dank der Peschmerga politisch stabil bleibt. Nun muss Otto noch Forschungsgelder eintreiben. "Man ist ja als Professor Fundraiser, Manager und Dozent und muss auch noch publizieren", sagt sie. Sollte sie die nötigen Mittel erhalten, kann die Archäologin endlich auch wieder Unerforschtes entdecken. "Das ist dort noch terra incognita."

© SZ vom 25.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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