Krimi um eine Grabstätte:Im Schatten des großen Bruders

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Der Arzt Heiner Welter hat einen Roman über Viktor Mann und dessen verschwundenes Grab geschrieben. Die berühmte Familie lässt ihn nicht los. Ein Spaziergang auf dem Waldfriedhof

Von Sabine Reithmaier

Zwischen Thomas Mann und Heiner Welter gibt es tatsächlich Gemeinsamkeiten. Der jeweils erste Roman der beiden Autoren startete mit einer Auflage von 1000 Exemplaren. Aber während "Buddenbrooks", 1901 erstmals erschienen, zwei Jahre bis zur zweiten Auflage benötigte, hat Welters im vergangenen Jahr erschienenes Buch "Das verschwundene Grab der Manns" (Lindemanns Bibliothek) dieses Ziel bereits erreicht. Heiner Welter wirkt ziemlich stolz, als er das während eines Spaziergangs am Münchner Waldfriedhof erzählt.

Plötzlich bleibt der Autor stehen. Genau an der Stelle, an der sein Alter Ego im Roman, der Ich-Erzähler Hans Wehner, zum ersten Mal den seltsamen Fremden trifft, der sich später als Viktor Mann zu erkennen gibt. Wehner hat viel Ähnlichkeit mit Welter. Wie seine Kunstfigur ist er ebenfalls Chirurg, und beide schätzen Thomas Manns Novelle "Tonio Kröger" seit der Schulzeit. "Ist mir lieber als der Dr. Faustus, in den viel unnötig Kompliziertes eingebaut ist", sagt Welter, der den Titel "Prof. Dr. Dr." trägt. Seinen Romanhelden lässt er aber keine Bücher schreiben, das behält er sich selbst vor. "Damit habe ich einen Kompensationsmechanismus gefunden. Sonst hätte mich die Chirurgie aufgefressen."

Die Mauer, die den Friedhof zur Fürstenrieder Straße hin abgrenzt, ist nur wenige Meter entfernt, hinter ihr tost der Verkehr. Die stetige Geräuschkulisse lässt Welter seine Romanfigur Viktor Mann erst für Karusselllärm, dann für Autorennen halten. Verständlich, denn zu Lebzeiten des jüngsten Mann-Bruders war in der Straße sicher noch viel weniger los. Und eigentlich interessieren Viktor Autos gar nicht, er sucht nur nach dem Grab, in dem seine Mutter Julia, Schwester Carla, seine Frau Magdalena und er selbst liegen.

Hans Welter auf dem Münchner Waldfriedhof. (Foto: Florian Peljak)

Der geisterhafte Viktor sucht umsonst. Das Grab existiert schon lange nicht mehr, längst hat es eine andere Familie belegt. Aber in Vergessenheit geraten wird die Stätte nicht. Dafür hat Heiner Welter schon gesorgt. Nicht nur durch den Roman, sondern auch durch eine Gedenktafel, die seit November 2003 in der Nähe des ehemaligen Grabs hängt.

Welters Mann-Begeisterung hat der Literaturwissenschaftler Dirk Heißerer mit seinen literarischen Spaziergängen durch München und Umgebung erst richtig angefacht. Schon vor Jahren trat Welter dem Thomas Mann-Forum bei und begann sich für die Geschichte der Familie zu interessieren. In Viktor Manns Autobiografie "Wir waren fünf" las er von der Grabstätte, erfuhr, dass Viktor bereits 1937 einmal vergessen hatte, die Gebühren zu bezahlen.

Doch wo war das Grab? Welter ging zur Friedhofsverwaltung und entdeckte, dass die Stätte schon 1972 aufgehoben worden war. "Erstaunlich, da doch Nelly Mann, Viktors Frau, erst 1962 gestorben war." Er begann nachzuforschen, hoffte anfangs, den Grabstein noch zu finden. Während seiner Recherchen stieß er auf den Brief des Oberstudienrats Ernst Stadler, der sich 1975 darüber empört hatte, dass das Grab einfach aufgelassen worden war.

Auf dieses Schreiben hatte im selben Jahr Viktors Neffe Golo Mann reagiert und der Friedhofsverwaltung wenig Fantasie attestiert. "Dass in der Schweiz nahe Verwandte leben, hätte man wissen oder etwa durch einen Anruf bei der Süddeutschen Zeitung leicht herausbringen können", hatte der Historiker geschrieben und versichert, man hätte das Grab erhalten, wäre das Auslaufen beizeiten bekannt geworden. Aber die Stätte wieder zurückzukaufen, hatte er abgelehnt.

Welter aber gab nicht auf. "Den Roman hatte ich damals schon weitgehend fertig", sagt er während des Friedhofsspaziergangs. Geschrieben hat er den Text schon, als er 2002 als Chirurg in Merseburg arbeitete. "Das war so ein riesiges Klinikum. Ich war der einzige Westdeutsche und bekam das zu spüren." Das Schreiben habe ihn von seinen depressiven Stimmungen abgelenkt, sagt er. So lässt er seinen Hans Wehner mit Viktor Mann über dessen Leben plaudern und ihn von seinem Schuldkomplex erzählen. "Vicco", wie Thomas Mann den jüngeren Bruder nannte, blieb während der Nazizeit in Deutschland. Ihm habe, sagt er im Roman, eine grundsätzliche Eignung für das Exil gefehlt. Hans Wehner begleitet dann auch Viktors Mutter Julia Mann ans Grab von Tochter Julia und hört sich deren Klagen über den Schwiegersohn an.

An der Mauer ließ Hans Welter eine Tafel anbringen zum Gedenken an Viktor, den jüngeren Bruder von Thomas Mann. (Foto: Florian Peljak)

Thomas Manns geliebte Schwester "Lula" - ihr Grab gibt es noch, es liegt ebenfalls auf dem Waldfriedhof. Julia Mann, verheiratete Loehr, hatte es 1922 erworben, als ihr Mann Josef starb, für 100 Jahre. Eigenartigerweise sind ihre Lebensdaten auf dem Stein nicht eingraviert (1877-1927), dafür ein Spruch, der angeblich aus einer nicht gehaltenen Grabrede Thomas Manns stammen soll. Tief berührt durch Lulas Freitod schaffte der berühmte Schriftsteller es nicht zu sprechen.

Welter setzt sich auf eine Bank und beginnt, in seinen Unterlagen zu kramen. Er ist 1948 in Bergisch-Gladbach geboren. Im selben Krankenhaus wie Heidi Klum, sagt er, um gleich anzufügen, dass das nicht unbedingt erwähnenswert sei. Eher die Tatsache, dass das damals eben ein schönes Krankenhaus gewesen sei, während im zerbombten Köln, wo seine Eltern im "Schäl Sick", also auf der rechten, gesellschaftlich gesehen falschen Seite des Rheins wohnten, die meisten Kliniken zerstört waren. Mit zehn Jahren steckten die Eltern ihn ins Internat der Zisterzienser-Abtei Marienstatt im Westerwald. "Das war eine sehr harte Zeit." Welter schüttelt sich leicht. Der Leiter sei in den ersten Jahren nur mit dem Stock durchs Haus gegangen. "Wir mussten in den Wald gehen und die Stecken abschneiden, mit denen wir verprügelt wurden." Darüber hat er schon einiges geschrieben, aber noch nicht veröffentlicht. "Steht noch a."

Seine Begeisterung für Bayern begann während seiner Bundeswehrzeit in Fürstenfeldbruck. "Schade nur, dass ich damals nicht auf den Waldfriedhof gekommen bin, 1968 hätte das Grab noch existiert." So aber ging er zurück nach Köln, studierte Medizin und folgte seinem damaligen chirurgischen Chef 1975 an die Uniklinik in der Nußbaumstraße nach München. Später wechselte er nach Großhadern, arbeitete dort zehn Jahre im Explantationsdienst, das heißt, er reiste in ganz Bayern umher, um Organe zu entnehmen, dann kehrte er zurück in die Nußbaumstraße.

Foto: Florian Peljak (Foto: Florian Peljak)

Sich in Klinikbetriebe zu integrieren, fiel ihm nie leicht. "Vielleicht weil ich doch ein Querdenker bin." Eher ein Mann für den Universitätsbetrieb: "Ich habe unheimlich viel publiziert, aber was den militärischen Gehorsam betrifft, bin ich ein Versager." Kollegen hätten ihn schon aufgefordert, mal was über die "brutale Ellbogengesellschaft" in Kliniken zu schreiben. "Aber da habe ich den Kniff noch nicht gefunden, wie das allgemein interessant wird."

1989 trat er seine erste Chefarztstelle in Bochum an, innerfamiliär eine schwierige Entscheidung, sagt er. Seine Frau, ebenfalls Ärztin, und die drei Kinder hatten keine Lust auf den Umzug. Also ging er allein, kam bald zurück, arbeitete in einer Münchner Tagesklinik. "Dann ging eine gewisse Odyssee los", sagt er: Freiburg, Rastatt, Bühl, Schweinfurt, Merseburg, Rinteln an der Weser, Mittersill, Reutte, Braunau, Waidhofen an der Ybbs - Welter ist nicht sicher, ob er wirklich alle Stationen seines Berufswegs aufgezählt hat. Waidhofen war jedenfalls die letzte, "dort hörte ich mit 66 auf." Trotzdem arbeitet er immer noch, macht Bereitschaftsdienst für die Kassenärztliche Vereinigung. "Von 18 Uhr abends bis 8 Uhr früh, mittwochs und freitags ab 13 Uhr, weil die Praxen zu haben", sagt er, steht wieder auf und marschiert weiter.

Das nächste Buch hat er schon fertig, fehlt nur noch der Verlag. "Wenn Hitler 13 Minuten länger geblieben wäre" lautet der Titel. In der fiktiven Geschichte, die davon ausgeht, dass Hitler 1939 bei Georg Elsers Attentat im Münchner Bürgerbräukeller umkam, entwickelt Welter die Geschichte einer rheinischen Republik einschließlich des Reichskanzlers Adenauer.

Gern würde er noch mehr schreiben. "Aber dafür fehlt mir manchmal die Kraft." Der Stoff geht ihm jedenfalls nicht aus. Vorstellbar wäre auch eine Fortsetzung des ersten Romans. Den Manns bleibt Heiner Welter auf jeden Fall verbunden. Bis in den Tod. Die freie Grabstätte neben dem ehemaligen Familiengrab jedenfalls hat er bereits für sich gekauft.

© SZ vom 15.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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