Kriegsverbrecherprozess in München:Das große Verschweigen

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Der Prozess um die Kriegsverbrechen der Wehrmacht in Italien endet - und die Richter stoßen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Eine historische und juristische Annäherung.

Alexander Krug

Der Nachmittag des 27. Juni 1944 hat sich unauslöschlich in das Gedächtnis von Gino Massetti eingebrannt. Im Tal sind Schüsse zu hören, die Neugier treibt den 15-Jährigen direkt in die Arme deutscher Soldaten. Sie schleppen ihn gemeinsam mit weiteren zehn Männern zum Haus der Familie Cannicci. Dort müssen sich alle vor einer Mauer aufstellen. Einige Männer fangen an zu beten, sie ahnen, was sie erwartet. Auch Gino hat Angst. Plötzlich rast ein Krad mit Beiwagen heran, "ein Mann mit Schirmmütze" brüllt Befehle auf deutsch.

Josef Scheungraber vor Gericht: Er bestreitet jede Kenntnis von dem Massaker in Falzano. (Foto: Foto: ddp)

Die Soldaten treiben die Gefangenen in die Casa Cannicci. Als Gino durch eine Ritze nach außen lugt, sieht er Männer, die schwere Kisten in den ersten Stock schleppen. Dass sie Sprengstoff transportieren, davon ahnt er nichts: "Ich war doch noch ein Kind." Minuten später zerreißt eine Explosion das Gebäude. Gino Massetti überlebt als einziger - schwer verletzt und für immer gezeichnet.

65 Jahre später sitzt der einstige Bauernjunge aus dem kleinen Weiler Falzano di Cortona in der Toskana auf dem Zeugenstuhl im Münchner Schwurgericht. Ruhig wählt er seine Worte, vermeidet jede Schuldzuweisung. Ob er den Mann mit Schirmmütze beschreiben könne, wollen die Richter wissen. Gino Massetti schüttelt den Kopf. Nur zwei Meter entfernt von ihm sitzt auf der Anklagebank ein freundlich wirkender alter Herr mit schlohweißem Haar. Josef Scheungraber, Schreinermeister aus Ottobrunn bei München, war damals im Juni 1944 ein junger Leutnant der Gebirgstruppe, kampferprobt und mit Eisernem Kreuz dekoriert.

Heute ist er heute 90 Jahre alt, geht an einer Krücke und hört schlecht. Während der Zeuge Massetti vom Grauen erzählt, lutscht der alte Mann an einem Bonbon. Einmal, als der Zeuge die deutschen Uniformen genauer beschreiben soll, macht er eine verächtliche Handbewegung. Die Botschaft ist klar: Was geht mich das alles an!

Geht es ihn wirklich nichts an? Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz ist überzeugt, dass Kompanieführer Scheungraber damals den Befehl zur Sprengung gab oder zumindest einen entsprechenden Befehl weiterleitete. Im Januar 2008 erhob Lutz Anklage wegen 14-fachen Mordes. Denn zu den Opfern zählten nicht nur die zehn Geiseln in der Casa Cannicci, sondern weitere drei Männer und eine alte Bäuerin, die die Soldaten zuvor beim Durchstreifen des Tales erschossen hatten.

Am 15. September 2008 begann im Schwurgericht München I der Prozess. Seither versuchten die Richter eine Antwort auf die zentrale Frage zu finden: Welche konkrete Rolle spielte damals Scheungraber? Sie befragten zahlreiche Zeitzeugen, wälzten Dokumente, verlasen Vernehmungsprotokolle verstorbener Zeugen und lauschten den Gutachten von Militärhistorikern. Sie näherten sich dabei zwei Wahrheiten, einer historischen und einer juristischen.

Die historische Annäherung

Bei ihrem Rückzug aus Italien hinterließ die Wehrmacht eine breite Blutspur. Alliierte und italienische Ermittler trugen nach dem Krieg knapp 2300 Fälle von Kriegsverbrechen zusammen, die in Akten angelegt und archiviert wurden. Nach Schätzungen von Historikern wurden zwischen September 1943 und Kriegsende etwa 16.600 italienische Zivilisten Opfer deutschen Terrors.

Falzano di Cortona steht dabei symbolisch für jene Gräuel, die als sogenannte Vergeltungs- oder Sühnemaßnahmen verübt wurden. In der Kriegsrealität waren es Massaker an unschuldigen Zivilisten, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Ein Morden en Passant.

Das Gebirgs-Pionier-Bataillon 818 war im Juni 1944 in Cortona stationiert. Hauptaufgabe war die Sicherung des Rückzuges und die Instandsetzung von Brücken und Wegen. Das Bataillon bestand aus zwei Kompanien mit etwa 150 Mann. Die erste Kompanie, die größere von beiden, wurde von Leutnant Scheungraber befehligt. Am 26. Juni 1944 schickte er drei Soldaten in das an Cortona angrenzende Minimella-Tal mit dem Auftrag, ein Fuhrwerk samt Pferd zu requirieren.

Für die bettelarmen Bauern war das wie ein Sakrileg. Sie riefen eine Partisanengruppe zur Hilfe, die die Deutschen auf dem Rückweg attackierte. Die Widerstädnler erschossen einen Unteroffizier und einen Gefreiten, einem Dritten gelang die Flucht.

Scheungraber konnte sich an die beiden Leichen noch erinnern, als Ermittler ihn das erste Mal im Jahr 2005 befragten. Ihnen erzählte er auch, dass er das "Dorf" umstellen und "17 junge Männer" habe festnehmen lassen. Diese habe er dann der Feldgendarmerie übergeben. "Was mit ihnen weiter geschah, weiß ich nicht", versicherte er den Kripobeamten. Von der Sprengung eines Hauses habe er noch nie etwas gehört. "Ich weiß davon nichts, und ich war auch nicht dabei”, behauptete er kategorisch.

Zeugen per Videoschaltung

Im Prozess schwieg Scheungraber und ließ seine drei Anwälte reden. Sie verkündeten gleich zum Prozessauftakt, dass ihr Mandant "keinerlei Kenntnis" von dem "Vorgang" in Falzano habe. Dieser Version widersprachen indes nahezu sämtliche Zeugen, die im Schwurgericht über die Monate hinweg persönlich oder mittels Videoschaltung aus Italien aussagten.

Die alten Männer, die sich mit Gehwägelchen oder Krückstock in den Schwurgerichtssaal schleppten, waren überwiegend Angehörige von Scheungrabers Kompanie. Fast alle hatten "Kenntnis" von dem Massaker, entweder weil sie es selbst miterlebt hatten oder es aus Erzählungen der Kameraden kannten.

Ludwig P., 85, war damals Obergefreiter und Melder der 1. Kompanie Scheungrabers. Er räumte ein, an jenem 27. Juni 1944 eigenhändig eine der schweren Kisten mit Sprengstoff in die Casa Cannicci geschleppt zu haben. Als die Richter nachhakten, reagierte er mürrisch und gereizt. Nein, er habe weder von einer Sprengung noch von den Gefangenen im Untergeschoss des Hauses etwas gewusst. "Der Landser, der erledigt das und schert sich einen Pfiff darum, was das soll", bekundete Ludwig P. unwirsch. Die Richter glaubten ihm kein Wort, doch alles Nachfragen brachte nichts. Unbeantwortet blieb vor allem die Frage, wer denn damals den Befehl zur Sprengung gegeben habe.

Ein weiterer direkter Augenzeuge war der heute 85-jährige Johann W., der sich noch ganz genau an die Leichen der von den Partisanen getöteten Kameraden erinnerte. "Der Hass war nicht klein, das können Sie sich denken", beschrieb er die Gefühlslage der Truppe. Er sei auch dabei gewesen, als die Gegend nach den "Scheißpartisanen" durchkämmt wurde. Die Sprengung des Hauses habe er aber nicht selbst miterlebt. Deshalb könne er auch nicht sagen, wer den Befehl dazu gab. "Einer von denen hat's halt angeschafft", sagte er missmutig und deutete in Richtung des Angeklagten.

So präzise sich die alten Männer an manches Kriegserlebnis erinnerten, so schweigsam, ja übellaunig wurden sie stets, wenn es um die zentrale Frage nach Verantwortlichkeiten ging. "Es war Krieg, wir waren auf dem Rückzug. Da ging es drunter und drüber. Ich will mich an die Situation nicht mehr erinnern", rief der Zeuge Georg H., 83, erregt, "ich will meine Ruhe." Auch die ermordeten italienischen Zivilisten hätten gerne ein ruhiges Leben gehabt, konterte der Vorsitzende Richter Manfred Götzl. "Den Krieg hab' nicht ich angezettelt, sondern die Politik", gab der Greis zurück.

Sein Auftritt war symptomatisch für viele andere. Mehrmals mahnte das Gericht die Veteranen zur Wahrheitspflicht. Mehrmals entstand der Eindruck, dass sie mehr wussten als sie sagten. "Das große Schweigen" nannte die Soziologin und Publizistin Gabriele von Armin Ende der achtziger Jahre ihre Studie über die Kriegsgeneration und ihre "Schwierigkeit, mit den Schatten der Vergangenheit zu leben". Das Auftreten mancher betagter Zeugen erinnerte eher an das große Verschweigen.

Ob diese Amnesie authentisch war oder ob sie etwa durch Absprachen befördert wurde, ist letztlich nicht zu beweisen. Doch Indizien dafür gibt es. Die Polizei hatte zu Beginn ihrer Ermittlungen das Telefon von Scheungraber angezapft. Der rief gleich als erstes seinen ehemaligen Kommandeur an. Ein vernünftiges Gespräch kam nicht zustande, weil der Ex-Major Herbert Stommel, heute in der Nähe von Dortmund lebend, an Demenz leidet. Gegen ihn wurde auch ermittelt, aufgrund seiner Krankheit gilt er aber als verhandlungsunfähig.

Danach versuchte Scheungraber den Ex-Kameraden Johann H. auszuhorchen. "Nicht wahr, du weißt, wer ich bin?", fragte Scheungraber. Nach mehr als sechs Jahrzehnten kam die Antwort ohne jede Verzögerung: "Ja freilich, mein Kompaniechef." Und auch an das Geschehen in Falzano erinnerte sich Johann H. am Telefon sofort: "Ich weiß noch, wie wir das durchkämmt haben mit der Flak."

Scheungraber brach das Gespräch danach abrupt ab, man dürfe "am Telefon nicht zu viel reden", sagte er - gewarnt von seinem neben ihm sitzenden Anwalt. Das Telefon blieb fortan still, die Ermittler bekamen zwar noch Wind von einem Treffen der alten Kameraden in einer Gaststätte im oberbayerischen Rohrdorf. Doch der genaue Termin blieb ihnen unbekannt, und als die Richter im Prozess danach fragten, bekamen sie von den Teilnehmern nur Ausflüchte zu hören.

In die Luft gesprengt

Partisanenangriffe auf deutsche Soldaten gab es in Italien viele, der Kölner Historiker Carlo Gentile schätzt die deutschen Verluste auf 2000 bis 4000 Mann. Die "Sühnemaßnahmen" folgten stets auf dem Fuß und nach exzessiv festgelegten Quoten. Grundlage waren die sogenannten Bandenbekämpfungsbefehle Hitlers von Ende 1942, die der loyale Generalfeldmarschall Albert Kesselring, Oberbefehlshaber der deutschen Truppen in Italien, umsetzte und erweiterte.

Er verlangte nicht nur "schärfstes Durchgreifen" (auch gegen Frauen und Kinder), er sicherte auch allen an den Morden Beteiligten Straffreiheit zu. Kesselring wurde 1947 zum Tode verurteilt, dann aber begnadigt und 1952 vorzeitig aus der Haft entlassen. "Im nächsten Krieg kann man keine Soldaten als Offiziere mehr einsetzen. Es müssen schon Juristen sein", war sein zynischer Kommentar.

Üblicherweise wurden Geiseln aufgehängt oder erschossen. Dass die Gefangenen von Falzano in die Luft gesprengt wurden, lässt die Handschrift von Pionieren erkennen. Es war sozusagen ihre persönliche Note der Rache. Auch der gesamte Ablauf der Vergeltung lässt nur den Schluss zu, dass es konkrete Absprachen und konkrete Befehle gegeben haben muss. Direkt nach dem Partisanenüberfall erschossen Soldaten den Bauernsohn Ferdinando Cannicci.

Danach zog man sich zurück, holte Verstärkung in Form eines Flakgeschützes auf einem Lkw und rückte am 27. Juni zur Durchkämmung des Tales aus. Zwei Männer und eine alte Bäuerin, die zu fliehen versuchten, wurden erschossen. Danach trieben die Soldaten die elf Gefangenen in die Casa Cannicci, also gezielt in das Elternhaus jenes jungen Mannes, der am Vortag erschossen worden war. Die Partisanen waren da längst über alle Berge - was den Soldaten durchaus bewusst war. "Erwischt hat es nur die Zivilisten, die armen Teufel", bekannte einer der Teilnehmer freimütig.

Die juristische Annäherung

Dass Scheungraber von diesen Vorgängen nichts wissen will, halten die Ankläger für eine "reine Schutzbehauptung". Die Befehlsstruktur in der Wehrmacht lasse nur den Schluss zu, dass Scheungraber als "Mittäter" in das Massaker eingebunden war. Zumal er bei einer früheren Vernehmung einmal selbst eingeräumt hatte, dass "der Platz eines Kompanieführers" bei Einsätzen bei der Truppe sein müsse: "Er kann dann nicht ins Kino gehen."

Und dann gibt es da auch noch dieses alte Foto: Es zeigt den jungen Leutnant Scheungraber bei der Beerdigung der beiden von den Partisanen erschossenen Kameraden am 27. Juni auf dem Friedhof in Umbertide, nur wenige Kilometer entfernt von Cortona. Ein Andenken an den Krieg, gefunden in Scheungrabers Haus in Ottobrunn.

In der Gemeinde wird seither viel diskutiert, es soll tiefe Gräben geben zwischen jenen, die ihn für schuldig halten und jenen, die von seiner Rechtschaffenheit überzeugt sind. Scheungraber saß jahrelang im Gemeinderat, war Ehrenkommandant der Freiwilligen Feuerwehr und bekam 2005 sogar die "Bürgermedaille" überreicht.

Über den Krieg und seinen Anteil daran soll er viel und gerne geredet haben, stets nach dem Motto, "wir waren halt noch richtige Kerle". An Sätze wie diesen erinnerten sich jedenfalls Zeugen, die erst gegen Ende des Prozesses auftauchten. Die Gegner von einst, die Italiener, pflegte er bei solchen Gelegenheiten als "Katzelmacher" zu diffamieren, die "verrecken" sollten. Seine Sichtweise spiegelt sich auch in einem Leserbrief von 1991, in dem er sich gegen die Aufstellung eines KZ-Mahnmals in seiner Gemeinde aussprach.

Er selber habe schwer gelitten im Krieg und "unvorstellbare Entbehrungen" erlebt, schrieb er. "Aber an Denkmäler haben wir nicht gedacht." Ganz ähnlich klang sein Schlusswort im Schwurgericht, in dem er die Ungerechtigkeit beklagte, sich nach all dem Leiden für das "sogenannte Vaterland" mit fast 91 Jahren noch vor einem Gericht verantworten zu müssen. Ein Wort für die Toten von Falzano fand er nicht.

Ein Militärtribunal in La Spezia verurteilte Scheungraber im September 2006 in Abwesenheit zu lebenslanger Haft. Den italienischen Richtern genügte die Funktion Scheungrabers als Kompanieführer, um ihn schuldig zu sprechen. Ob die Münchner Richter dieser Argumentation folgen, scheint indes fraglich.

Selbst wenn sie die Verstrickung des Angeklagten in das Morden von Falzano für erwiesen hielten, blieben viele Rechtsfragen zu klären. Das deutsche Strafrecht verlangt bei einer Verurteilung wegen Mordes eine Gesamtwürdigung der äußeren und inneren Handlungsantriebe eines Täters.

Womöglich 45 Jahre zu spät

Die Staatsanwaltschaft wirft Scheungraber Grausamkeit (Sprengung) und niedrige Beweggründe (Rachsucht) vor. Doch dies zu beweisen, dürfte mangels exakt belegbarer Beteiligung des Angeklagten an dem Geschehen schwierig werden. Ohne gesicherte Mordmerkmale bliebe theoretisch eine Verurteilung wegen Totschlags. Dieser aber wäre nach 20 Jahren, also 1964 verjährt. Der Prozess käme mithin 45 Jahre zu spät.

Der Weiler Falzano existiert heute nicht mehr. An den Ort und die Opfer erinnert nur noch ein Gedenkstein. Der Bauernjunge Gino Massetti, der nach dem Krieg Carabiniere wurde, lebt heute in der Kleinstadt Cortona. Das Minimella-Tal mit seinen Erinnerungen meidet er. Dass Josef Scheungraber ins Gefängnis kommt, darauf legt er keinen Wert: "Ich hege keinen Hass, ich habe längst verziehen."

Auch die Angehörigen der Toten von Falzano wollen nach 65 Jahren keine Rache mehr. Sie wollen am Ende ihres Lebens nur noch die Wahrheit erfahren, wollen ihren Vätern, Söhnen und Brüdern ihre Würde zurückgeben. Mit der Vertretung ihrer Interessen in Deutschland haben sie die Anwältin Gabriele Heinecke beauftragt. Am ersten Prozesstag appellierte sie an Scheungraber: "Übernehmen Sie endlich Verantwortung." Eine Reaktion blieb aus.

Am kommenden Dienstag will das Gericht nach fast elf Monaten Verhandlung sein Urteil verkünden. Angehörige der Toten und der Bürgermeister von Cortona wollen dazu aus Italien anreisen.

© SZ vom 08.08.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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