Klinik für Pullover:Letzte Hilfe

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20 bis 30 Pullover pro Woche bringen Kunden zu Dilek Can in die erste Cashmere Clinic Deutschlands. (Foto: Stephan Rumpf)

Die Cashmere Clinic repariert löchrige Pullover, die kaum mehr zu retten sind - Tipps zur Pflege gibt es oben drauf

Von Franziska Gerlach

Im grellen Neonlicht liegt ein Patient. Dilek Can tut alles, um den Schaden zu begrenzen. Mit Dutzenden winziger Nadeln fixiert sie das Gewebe. Die Maschen sollen dem Loch, das Motten in der Größe einer Euro-Münze in den Kaschmirpullover gefressen haben, nicht noch weiter hinterherlaufen. Eine Stunde lang rekonstruiert Can das fehlende Stück Strick mit einer Häkelnadel. "Das ist ein mittelschwerer Fall", sagt Can. Die Rettung glückt, wie meist.

Die Cashmere Clinic im Lehel ist die erste ihrer Art in Deutschland. Seit März gibt es das Pullover-Krankenhaus der Kaschmirmarke Allude. Doch angenommen werden dort nicht nur Kreationen, die den Namen des bekannten Münchner Labels im Etikett tragen, sondern auch Waren anderer Hersteller. Einzige Voraussetzung: "Der Strick muss einen Anteil von 30 Prozent aufweisen", sagt Can und rückt ihre Brille zurecht. Andernfalls könne der Pullover nicht mit dem Kaschmirgarn repariert werden. Für Grobmotoriker ist ihr Job nichts. Mit einer Akribie, die man einem Chirurgen zuschreiben würde, kümmert sich die 25 Jahre alte Kunststopferin und Schneidermeisterin um ramponierte Pullover. Sie flickt Löcher, wäscht und zieht mit einem Kamm sachte Knötchen heraus. Entpillen, so nennen das Leute, die sich auskennen mit dem luxuriösen Material.

An den Wänden hängen Garnrollen in allen erdenklichen Farben. Nach dem Vorbild eines Apothekerschrankes wurde eine Kommode angefertigt, in der die Pullover lagern. Andrea Karg, die Allude 1993 gegründet hat, will mit der Cashmere Clinic in der Christophstraße zu mehr Wertschätzung für Textilien anregen. "Dieses Ex und Hopp ist mir zuwider", sagt sie und zieht einen Bausch weicher Kaschmirfasern aus einem der Plexiglasröhren, die links vom Eingang den Weg vom Rohstoff zum fertigen Produkt demonstrieren. In einen Kaschmirpullover investiert man nicht jeden Tag. "Unser Angebot an den Kunden soll deshalb nicht mit dem Kauf des Pullovers enden", sagt Karg.

Kaschmirziegen leben in der Mongolei. Am Endes eines Winters wird ihnen der weiche Flaum aus dem Bauchfell gekämmt. Eine Ziege liefert etwa 100 Gramm, für einen Pullover werden etwa 300 Gramm benötigt - was auch den Preis erklärt, der im Fall von Allude zwischen 200 und 300 Euro pro Pullover liegt. In Münchner Kleiderschränken befinden sich davon offenbar ziemlich viele solcher Stücke, pro Woche werden 20 bis 30 Pullover in der Cashmere Clinic abgegeben, selbst im Sommer, wenn es heiß ist. Wer will, lässt sich im Internet einen Kostenvoranschlag erstellen. Aus Hamburg, Saarbrücken und Karlsruhe haben Kunden schon kaputten Strick nach München geschickt. Selbst die Hose eines Teddybären hat Can bereits geflickt.

"Momentan müssen Sie sich anderthalb Wochen gedulden", sagt Can zu einem Schwabinger, der in den Laden gekommen ist und gleich zwei Pullover abgeben will. "Passt schon" sagt der Enddreißiger. Can zieht den Ärmel des Pullovers über eine Leuchtröhre, Zentimeter um Zentimeter inspiziert sie ihn. Als sie schließlich ein kleines Loch unter der Achsel ausmacht, kennzeichnet sie es mit einem runden Sticker. Die Naht ist aufgerissen. "Eine ganz typische Stelle", sagt Can. "Das passiert, wenn Pullover zu klein gekauft oder zu hastig übergezogen werden." Reparaturen wie diese gehören zu ihrem Tagesgeschäft. Sie sind nichts im Vergleich zu der Herausforderung, vor die sie kürzlich ein von Hundezähnen zerfetzter Kaschmirpullover gestellt hat. Drei Tage dauerte es, bis Can alle 50 Löcher gestopft hatte - zum Preis von 150 Euro. Doch der Lieblingspulli war es dem Besitzer wert.

Can erlebt es oft, dass die Kunden verunsichert sind. So hilft es bei Motten tatsächlich, den Pullover ins Eisfach zu legen. Auch wenn so manchem Unbeteiligten beim Anblick von Strick zwischen Fischstäbchen und Gemüsemix die Gesichtszüge entgleisen. Besonders häufig wird die Kunststopferin gefragt, ob die Pullover in die Waschmaschine dürfen, und wie sie richtig getrocknet werden. Eine neue Waschmaschine mit Schonprogramm sei absolut verträglich für Kaschmir, sagt Can. Aufhängen dürfe man die Pullover aber nicht, sonst verziehen sie sich sofort. Kaschmir müsse liegen, sagt Can und breitet einen Pullover auf dem Bügelbrett aus. Das Bügeleisen zischt, als sie überflüssigen Dampf ablässt. Damit sich keine unschönen Kanten bilden, lässt sie es zwei Zentimeter über dem Strick schweben. Dann ist der Klinikaufenthalt vorüber - und der Patient entlassen.

© SZ vom 28.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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