Jubiläum:Ein Warenhaus für unendliche Geschichten

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Hitchcock, Gottschalk oder "Sturm der Liebe" - die Bavaria Filmstadt feiert 90 Jahre Film und 50 Jahre Fernsehen.

Christina Warta

Manchmal ist sogar das Filmemachen ganz einfach. "Das soll hier aussehen wie ein Filmset aus den dreißiger Jahren", sagt Richard Bolz in Halle drei. Also ist der Requisiteur erst einmal im Fundus gegenüber verschwunden. Dort fand er ein paar Ziegelwände, die aus dem Film "Speer und Er" übriggeblieben waren, außerdem einen pittoresken Grabstein, der mal für die "Buddenbrooks" verwendet wurde. Schließlich trieb Bolz historische Kohlebogen-Scheinwerfer auf, und nun sieht die Kulisse für "Jud Süß - Sympathie für den Teufel" langsam so aus, wie der Regisseur sich das vorstellt.

Gehört zum Pflichprogramm jedes Besuchers: Das U-Boot-Modell aus dem deutschen Kult-Film "Das Boot" von Wolfgang Petersen. (Foto: Foto: Robert Haas)

Bald werden sie drehen, erzählt wird die Geschichte des Jud-Süß-Darstellers Ferdinand Marian. An den Türen kleben Schilder mit den Namen der Schauspieler. Dass es in diesen Tagen eigentlich ein Jubiläum zu feiern gibt, interessiert in der Hektik des Filmemachens keinen.

Seit 90 Jahren werden im Süden Münchens Filme gedreht. "Isar-Hollywood" wird die Filmstadt im Grünwalder Ortsteil Geiselgasteig gerne genannt, manchmal auch ein bisschen despektierlich "Weißwurst-Hollywood". Zwölf Filmstudios gibt es auf dem Gelände, das größte ist 3000 Quadratmeter groß und 15 Meter hoch. Darin waren schon ein Bunker aufgebaut, ein Wikingerschiff und ein Flugzeug.

Filmwelten verschwinden so schnell wie sie enstanden sind

In dieser kleinen Stadt ist nicht alles echt und schon gar nichts endgültig. Kulissen werden auf- und abgebaut, ganze Filmteams rücken für Tage oder für Monate an, beleben ein Viertel - und sind plötzlich wieder verschwunden. Manchmal laufen mitten im Sommer Weihnachtsmänner über die Straße, weil gerade eine Adventsshow aufgezeichnet wird. Manchmal werden Tonnen Schnee über eine ausrangierte Kulisse gekippt - für einen Lawinenkatastrophenfilm.

Auf dem Gelände werden immer noch Kinofilme gedreht, doch das ist längst nicht alles. Berühmte Kulissen und spektakuläre Stuntshows ziehen seit 1981 hunderttausende Besucher in ihren Bann - im vergangenen Jahr waren es 400.000. Außerdem haben sich mehr als hundert Firmen in den vielen abgenutzten weißen Containern eingemietet. Darunter sind auch hochdekorierte Unternehmen wie "Scanline", deren Inhaber vor einem Jahr für ihre Software den Technik-Oscar bekommen haben.

Knapp 40 der Unternehmen gehören zur Bavaria-Holding, die im vergangenen Geschäftsjahr laut eigenen Angaben einen Umsatz von 223,5 Millionen Euro gemacht hat. Rund 1000 Menschen arbeiten hier: als Schauspieler oder Regisseure, als Kameraleute, Kulissenbauer, Lichtanlagenverleiher, Computerexperten oder Logistiker. Die Filmstadt ist nicht nur Show, sondern auch ein großes Unternehmen.

"Neulich standen ein paar Russen an der Pforte", erzählt Cathren Crönlein vom Sales-und-Services-Bereich der Bavaria, "die sagten, sie wollten einen Film drehen." Crönlein hat ihnen alles besorgt: Drehorte, Drehgenehmigungen, die Technik. Das ist es, was die Bavaria sein möchte: "Wir sind wie ein großes Warenhaus", sagt Geschäftsführer Achim Rohnke, "bei uns bekommt man alles unter einem Dach." Vorausgesetzt, man hat genügend Geld im Portemonnaie.

Es war der Filmpionier Peter Ostermayr, der das 300000 Quadratmeter große Gelände vor den Toren der Stadt kaufte und dort am 1. Januar 1919 mit seiner Firma "Münchner Lichtspielkunst AG", der MLK, einzog. Die Wände der ersten Studiohalle bestanden ausschließlich aus Glas - wie sonst hätte man damals genügend Licht vor die Kameralinsen bringen sollen? Ostermayrs Bruder nutzte als Erster das aufsehenerregende neue Studio, er drehte 1920 "Der Ochsenkrieg", fünf Jahre später Alfred Hitchcock "The Pleasure Garden".

Die Geschichte der Filmstadt ist gespickt mit berühmten Namen, an allen Ecken stehen Filmkulissen, die jeder kennt: das U-Boot aus Wolfgang Petersens "Boot", der Drache Fuchur aus Michael Endes "Unendlicher Geschichte", das gallische Dorf von Asterix, Gudrun Ensslins Zelle aus dem "Baader-Meinhof-Komplex". Auch Billy Wilder arbeitete in München, Rainer Werner Fassbinder sowieso, und Steve McQueen flüchtete hier für "The Great Escape" aus einem Kriegsgefangenenlager der Nazis.

Doch jene Zeiten, in denen in Geiselgasteig ausschließlich aufwendige Kinofilme entstanden, sind längst vorbei. Schon seit 1959 ist man bei der Bavaria auch auf die Fernsehmacher angewiesen, die auf dem Gelände pro Jahr mittlerweile 40.000 Sendeminuten fertigen.

Deshalb feiern sie in diesen Tagen nicht nur 90 Jahre Filmstadt, sondern noch ein zweites Jubiläum: Am 1. August vor 50 Jahren wurde die Bavaria Atelier GmbH gegründet, mit ihr begann das Fernsehzeitalter. Kultserien wie "Funkstreife Isar 12" und "Raumpatrouille Orion" entstanden hier, TV-Sendungen wie "Formel Eins", "Gottschalk" oder "Der Preis ist heiß", aber auch Tatort-, Polizeiruf-110- und Rosenheim-Cops-Folgen sowie aufwendiges Fernsehen wie Heinrich Breloers "Die Manns" und "Speer und Er".

"Auf zwei Beinen steht man besser", argumentiert Achim Rohnke, gemeinsam mit Matthias Esche führt er die Geschäfte der Bavaria Film GmbH. Natürlich, sagt er, wolle man große internationale Produktionen auf das Gelände ziehen, wie das mit Bully Herbigs "Wickie", "Luther" oder dem "Parfum" gelungen sei. "Aber wir sind auch eine Fernsehfabrik - im positiven Sinne", sagt er, auch deshalb stehe die Bavaria finanziell gut da.

Produktion läuft wie am Fließband

Was das Wort "Fernsehfabrik" bedeutet, kann man in Halle zwei studieren. Dort ist die ARD-Seifenopfer "Sturm der Liebe" Dauermieter. Die Liebes-, Eifersuchts- und sonstigen Dramen, die sich Tag für Tag im fiktiven Hotel Fürstenhof abspielen, werden produziert wie am Fließband. Der Tagesablauf von 7.30 Uhr bis 20 Uhr ist minutengenau durchgetaktet, jeder Verzug im Zeitplan wird mit Rotstift neben der jeweiligen Szene vermerkt. 18 "Zimmer" gruppieren sich um einen Lichthof, der Tageslicht simuliert. Mitarbeiter schleppen Kisten mit - übrigens echtem - Obst und Gemüse durch die Gänge, andere tragen edle Vorspeisen für die Restaurantszene auf.

"Bitte!", ruft Siegi Jonas, eine von mehreren "Sturm der Liebe"-Regisseuren. Joachim Lätsch und Rene Oltmanns alias André und Simon Konopka stopseln sich durch ihren Dialog. Im Hintergrund wird leise gekichert, Siegi Jonas ruft mit ironischem Unterton: "Text!" Noch ein Durchgang, dann wird gedreht.

Die "Sturm der Liebe"-Produktion ist Dauerstress. Es bleibt kaum Zeit für Proben, dabei werden die Szenen nicht einmal chronologisch gedreht. "Chronologie wäre unser Tod", sagt Kai Meinschien, Sprecher der Serie. Meist werden auch Nahaufnahmen nicht extra nachgedreht - stattdessen zeichnen drei Kameras jede Szene auf, in der Bildregie werden Schuss und Gegenschuss live zusammengemischt.

Längst funktioniert das alles "tapeless", also digital und ohne Filmmaterial - ökonomischer geht es kaum. "Wir sind die erste Daily Soap, die auf diese Art arbeitet", sagt Meinschien stolz. Anders könnten die 47 Minuten - eine Serienfolge pro Tag - auch nicht produziert werden. Bei "Jud Süß" in der Halle nebenan arbeitet das Team dagegen zwölf Tage, um am Ende ungefähr fünf Minuten Kinofilm gedreht zu haben.

Gleich gegenüber der beiden Studios ist der Fundus der Bavaria beheimatet - offiziell trägt er den Namen "Film- und Theater-Ausstattung" (FTA). Der Fundus ist ein Tochterunternehmen der Holding, in den Hallen lagern 140000 Kostüme, 120000 Möbel sowie 100000 andere Requisiten wie Vasen, Wecker, Sparschweine, Pokale, Kerzenständer und all die anderen Dinge, die Menschen besitzen können.

"Für den Film ist dieser Fundus unersetzbar", sagt FTA-Leiter Thomas Hissia und deutet auf einen Haufen ausgewaschener Handtücher: "Wenn Sie einen Film in den Fünfzigern ansiedeln, dann brauchen Sie vielleicht Handtücher, aber aus dieser Zeit. Wenn wir sie nicht haben - woher kriegen Sie sie dann?" Und so stehen immer wieder verzweifelte Requisiteure vor Hissias Tür, die dringend ein abgewetztes Tigerfell oder eine Eichenschrankwand brauchen.

Bei Michael Kranz dagegen steht niemand verzweifelt vor der Tür. In dem Raum mit den schwarzen Wänden und dem heruntergedimmten Licht richtet sich die gesamte Konzentration auf die Leinwand, auf der ein Standbild aus "Die Päpstin" flimmert - der Film von Regisseur Sönke Wortmann läuft im Oktober an.

Die perfekte Manipulation als Ziel

Gemeinsam mit Regisseur, Produzenten und Filmmusik-Komponisten verpasst Tonmischmeister Kranz einem Film den letzten Schliff: Musik, Geräusche und Stimmen werden möglichst perfekt zusammengefügt. "Wir sind die letzte Station", sagt Kranz, "danach kann man nichts mehr ändern." Seit 20 Jahren arbeitet Kranz für die Bavaria, sein erster Film war "Ödipussi". Normalerweise tüftelt Kranz vier bis acht Wochen an einem Film. Für das aufwendig "Parfum" aber benötigte er drei Monate.

Gerade ist Mittagspause, Kranz erklärt sein mehrere Meter langes Mischpult mit den 720 Kanälen. Dann kommt Wortmann herein, schaut unwillig auf die Besucher, verlässt den Raum wieder. Tonmischung kostet Kraft - wenn an jedem Türquietschen, jedem Hufgeklapper minutenlang gefeilt wird. "Die Herausforderung ist die perfekte Manipulation", sagt Kranz. Man sei bei der Produktion eines Kinofilmes in Geiselgasteig auf höchstem technischen Standard; die Tonstudios, so Kranz, stünden gar auf Augenhöhe mit Hollywood, "den Major Studios von Columbia oder Universal".

Dann wird Kranz unruhig, Wortmann will weitermachen. "Hohe Kunst ist das hier", sagt Geschäftsführer Rohnke noch und nickt Kranz zu, doch der erwidert nur trocken: "Das ist harte Arbeit."

© SZ vom 30.07.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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