"Jeder will nur die Menschen aus dem Wasser ziehen":Nähe suchen

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Constantinos Gianacacos war vor einem Jahr auf Lesbos und sah, wie viel bei der Flüchtlingshilfe brach liegt. Seitdem ist der Leiter des Evangelischen Migrationszentrums regelmäßig dort. Er dokumentiert, sortiert, sammelt Geld und begeistert

Von Jakob Wetzel

Als er die Halle zum ersten Mal sah, war Constantinos Gianacacos entsetzt. Der 50 Meter lange, zehn Meter breite Raum auf der griechischen Insel Lesbos war vollgestopft mit Hilfsgütern für Flüchtlinge. Jahrelang hatte die Hilfsorganisation "Angkalia" alle Lieferungen einfach hier abgelegt, Säcke über Säcke, Kisten über Kisten. Die Sachen wurden durchaus gebraucht, immer wieder kamen Helfer und nahmen, was sie eben fanden. Zeit, um die Bestände zu ordnen, hatte aber niemand; es gab zu viel zu tun. Und Gianacacos, der als Leiter des Evangelischen Migrationszentrums aus München auf die Insel gereist war, um eine Geldspende zu übergeben, sah: Die internationale Flüchtlingshilfe hatte hier einen blinden Fleck.

"Es sind so viele Helfer da, aber jeder will nur die Menschen aus dem Wasser ziehen", sagte ihm ein griechischer Bekannter. "Für die ganze Arbeit im Hintergrund gibt es niemanden." Das war im November 2015, in einer anderen Zeit: Es war lange vor dem Flüchtlingsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei, also lange bevor Bilder von umzäunten und streng bewachten Flüchtlingslagern um die Welt gingen, lange auch bevor ein Feuer das Lager Moria auf Lesbos stark verwüstete. Doch schon damals waren die Helfer überfordert. Und Gianacacos beschloss, das zu ändern, es zumindest zu versuchen.

Constantinos Gianacacos stellt Bilder des Erlebten aus. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Er flog nach München und trommelte mit Unterstützung seines Zentrums und der griechisch-orthodoxen Kirche 20 Helfer zusammen. In den Osterferien kehrten sie zurück. Tagsüber sortierten sie Kleidung, übernachten durften sie in einem Kloster. Nebenher halfen sie der örtlichen Kirchengemeinde dabei, für Flüchtlinge und arme Einheimische zu kochen. "Wir haben die Arbeit gemacht", sagt Gianacacos. Als sie wieder nach Hause fuhren, war alles sortiert und inventarisiert.

Constantinos - oder kurz: Costas - Gianacacos erzählt davon am liebsten im Café "Philoxenos" im Griechischen Haus im Westend; das Kultur- und Bildungszentrum an der Bergmannstraße beherbergt das Evangelische Migrationszentrum. Und im Café stellt Gianacacos Fotografien aus, die er auf Lesbos aufgenommen hat. Sie zeigen die Schönheit dieser Insel, die nur wenige Kilometer vor dem türkischen Festland liegt, weswegen dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen zufolge 2015 mehr als eine halbe Million Flüchtlinge versuchten überzusetzen. In der Bezirkshauptstadt Mytilini lebten zeitweise mehr Flüchtlinge als Einheimische. Die Fotos zeigen auch, wie Bootsflüchtlinge die Küste erreichen. Und sie zeigen deren Hinterlassenschaften: zerstochene Schlauchboote oder Schiffswracks etwa, oder auch Schwimmwesten, Hunderttausende davon. Die Inselbewohner haben sie auf eine Müllkippe geworfen, dort türmen sich die Westen zu einem Hügel. Eine der Westen hat Gianacacos neben seine Bilder gehängt.

"Wenn man sieht, wie viel Hilfsbereitschaft es dort auf Lesbos gibt, dann schämt man sich sehr für die Debatte über Flüchtlinge hier", sagt Gianacacos. Man dürfe die Menschen nicht einfach als Problem bezeichnen. Er selber habe bewusst die Nähe gesucht: "Dann bekommt das eine ganz andere Gewichtung." Die Lage der Menschen auf Lesbos geht ihm nahe, und das zeigt er auch. Wenn er von seinen Erlebnissen erzählt, kann es passieren, dass er in einer Minute zornig wird und in der nächsten lacht, dass ihm die Tränen kommen.

Und seitdem ist er immer wieder in Griechenland gewesen, um den Flüchtlingshelfern zu helfen, nicht nur auf Lesbos. Derzeit sammelt er Geld, um ein Blutanalysegerät zu finanzieren, im Oktober will er es abliefern. Und bald will er zwei Autos kaufen, damit Flüchtlinge, die in abgelegenen griechischen Dörfern untergebracht sind, Behördengänge erledigen und im Notfall rasch in eine Klinik fahren können.

Migration ist das Lebensthema von Costas Gianacacos. Er selbst ist 1974 aus Griechenland zugewandert; 1956 kam er in Ropoto zur Welt, einem thessalischen Bergdorf. Er war das dritte Kind seiner Eltern, hat zwei ältere Schwestern und einen jüngeren Bruder. Als er zwölf war, gingen Vater und Mutter als Gastarbeiter nach Nürnberg, die Kinder blieben allein in Griechenland zurück, damit sie in die Schule gehen konnten. "Das war nichts Besonderes, das war in Griechenland damals oft so", erinnert er sich. Später erst seien die Geschwister ebenfalls nach Deutschland ausgewandert, erst die Schwestern, dann der Bruder. Schließlich ging er selbst.

Er habe Glück gehabt im Leben, findet Costas Gianacacos heute. Vieles hätte auch anders kommen können. In Griechenland sei er als Jugendlicher bei großen Wettbewerben als Läufer angetreten, er habe gar vor dem Sprung in die Nationalauswahl gestanden. Mehrmals die Woche fuhr er mit dem Bus zum Trainingsplatz im Nachbarort, jede Fahrt dauerte Stunden. Doch dann schrieb ihm sein Vater aus Nürnberg einen bösen Brief: Was ihm einfalle? Er sei daheim geblieben, damit etwas aus ihm werde. Laufen könne er in Deutschland auch. Also gab Gianacacos das Training auf.

Später noch habe er in Griechenland Jura studieren wollen, erzählt er. Die Aufnahmeprüfung habe er bestanden, dann aber fehlte das nötige Geld. Also zog er zu den Eltern, besuchte schließlich das Studienkolleg in München, studierte Kommunikationswissenschaft - und blieb.

Gianacacos ist in München längst angekommen. Zuletzt saß er vier Jahre lang ehrenamtlich für die SPD im Münchner Stadtrat. Ropoto dagegen, das Dorf seiner Kindheit, ist inzwischen verlassen. Erdrutsche haben seit 2012 die meisten Gebäude im Ortszentrum abrutschen lassen oder zerstört; das Dorf ist nicht mehr bewohnbar. Doch Gianacacos ist der alten Heimat treu geblieben. Er engagierte sich in der griechischen Gemeinde in München, trieb Filmprojekte voran, verlegte Anthologien griechischer Dichter, verfasste selbst mehrere Lyrik-Bände auf Griechisch und Deutsch. Seit 1992 leitet er das Evangelische Migrationszentrum, eine Anlaufstelle für Zuwanderer, nicht zuletzt für Griechen. Seine Geschwister hätten alle die doppelte Staatsbürgerschaft, sagt Gianacacos. Nur er nicht, er sei ausschließlich Grieche.

Und dann habe ihm sehr imponiert, wie die Menschen auf Lesbos auf die Flüchtlinge reagierten, sagt er. Die meisten Flüchtlinge kamen im Norden der Insel an, die zentrale Unterkunft aber lag etwa 50 Kilometer entfernt im Südosten. Helfen dürfen hätte eigentlich niemand; man hätte wegen Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt belangt werden können, sagt Gianacacos. Dennoch hätten viele Einwohner mit ihren Privatautos ausgeholfen.

Ein Lesbier beeindruckte ihn dabei besonders: Efstratios Dimou, genannt Papa Stratis, ein griechisch-orthodoxer Priester. Er gründete die Hilfsorganisation "Angkalia", auf Deutsch "Umarmung", um den Flüchtlingen auf ihrem langen Marsch über die Insel unter die Arme zu greifen. Obwohl er selbst chronisch krank war und einen Sauerstoffschlauch in der Nase tragen musste, stand er auf der Straße und half. "Wir im Griechischen Haus waren von diesem Engagement sehr angetan", sagt Gianacacos. Als Papa Stratis im September 2015 starb, organisierten sie in München ein Benefizkonzert; und als Gianacacos das Geld dann zwei Monate später überbrachte, da stand er in jener Lagerhalle auf Lesbos und merkte, dass es mit Geld nicht getan war.

Auf Lesbos sei keineswegs alles gut, sagt Gianacacos. Er berichtet von Streit unter den Hilfsorganisationen und von Aktivisten, denen gute Fotos für die Eigenwerbung wichtiger seien als die Hilfe selbst. Auch die Zukunft werde schwierig, fürchtet er: Viele Flüchtlinge würden auf Lesbos bleiben müssen; damit aber hätten weder sie selbst noch die Einheimischen gerechnet, Konflikte seien programmiert. Erste Ausschreitungen gab es bereits. "Aber die Insel hat Großartiges geleistet!", sagt Gianacacos. "Und ich habe ein deutsches Lieblingswort: Zuversicht. Das heißt, dass man am Anfang bereits das Gute im Kopf hat, nicht das Schlechte."

© SZ vom 23.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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