Historischer Spaziergang:Giesinger Geschichten

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Die Fußballpioniere der Löwen, die ihr erstes Spiel gegen den 1. Münchner FC im Juli 1902 auf der Schyrenwiese mit 2:4 verloren. (Foto: SZ-Foto)

Wie ist der TSV 1860 München entstanden? Und wie endete das erste Fußballspiel? Unterwegs auf einer Stadtteilwanderung auf den Spuren der Löwen

Von Wolfgang Görl

Die städtische Sportanlage am Schyrenplatz ziert eine große Steinskulptur zweier Ringer, die in eine dekorative Rauferei verwickelt sind. Um der historischen Bedeutung dieses Orts gerecht zu werden, wäre ein anderes Denkmal angemessener: Einer oder mehrere Fußballspieler sollten in Stein gemeißelt sein, vielleicht auch noch ein Löwe dazu. Es ist so: Auf diesem Gelände hat am 27. Juli 1902 das erste richtige Spiel einer Fußballmannschaft des TSV 1860 München stattgefunden. Drei Jahre zuvor hatte der Turnverein eine Fußballabteilung gegründet, und nun war man endlich so weit, die damaligen Lokalmatadore, den 1. Münchner Fußball-Club (1. MFC), herauszufordern. Dieser war aus dem 1896 gegründeten Rasensportverein "Terra Pila" hervorgegangen, der als frühester Münchner Fußball-Club gilt und dem Anton Hübl angehörte, der "Haxentoni", der sich in einem Fotoatelier mit Ball, Kickermontur und Kämpfermiene ablichten ließ. Mit Blick auf die aktuelle Situation der Sechziger verwundert es nicht, dass die Premiere mit einer Niederlage endete. Die Löwen verloren mit 2:4 gegen den MFC.

Das alles erzählen Stadtführerin Stephanie Dilba ("Ich bin seit 27 Jahren leidende Löwin") und Roman Beer, der Abteilungsleiter der 1860-Fußballer, bei einem Stadtteilspaziergang, zu dem die SPD Harlaching geladen hatte. Etwa 20 SPD- und 1860-Anhänger - leidgeprüft sind die einen wie die anderen - folgten "den Spuren der Löwen durch Giesing", einer Tour, die Dilba und Beer ansonsten als Veranstaltung der "Freunde des Sechz'ger Stadions" anbieten. Neben der nicht durchweg glorreichen Geschichte der Löwen erfahren die Teilnehmer dabei interessante Details über Giesing. Aber auch diese dienen nicht immer dem Ruhm des Viertels. So schrieb das Münchner Fremdenblatt im Jahr 1879: "Und wieder nur einen Schritt weiter kommen wir an eine Pfütze, an ein Stinkwasser, das von Zeit zu Zeit ein ärgeres Parfüm ausströmt, als alle Böcke von Bar el Maserim - und wahrhaftig diese stinken arg. Giesing hat eine Gemeinschaft mit allen orientalischen Städten, nämlich: man soll sie von weitem anschauen, aber nicht hineingehen."

Schon 1848 entstand der Münchner Turnverein. Zwei Jahre später wurde er wieder verboten

Eine wohlmeinende Empfehlung, doch daran halten sich die beiden Löwenführer nicht, zumal das Viertel mittlerweile des Stinkwassers sowie anderer Zumutungen Herr geworden ist. Dass die Fußballpioniere der Sechziger zunächst auf einer Wiese nahe dem Schyrenbad kickten, hatte nichts mit einer speziellen Verbindung des Vereins zum Arbeiter- und Tagelöhner-Viertel Giesing zu tun. Die Gründungsväter des TSV entstammten keineswegs dem Proletariat, sie waren Akademiker, Studenten und andere Mitglieder des gehobenen städtischen Bürgertums. Bereits im Revolutionsjahr 1848 hatten Männer aus dieser Schicht den "Münchner Turnverein" gegründet, der aber zwei Jahre später von der Obrigkeit wieder aufgelöst wurde. Die von Friedrich Ludwig Jahn initiierte Turnerbewegung verfolgte seinerzeit teils liberale, teils deutschnationale Ziele, weshalb man sie im Königreich Bayern misstrauisch beäugte. Im Jahr 1860 hatte sich die politische Lage entspannt. Nicht in Giesing, sondern in der Müllerstraße, im Wirtshaus "Zu den drei Linden" gründeten einige Münchner Sportfreunde Mitte Mai erneut einen Klub, der dann auch bald eine Turnhalle in der Jahnstraße hatte und knapp vier Jahrzehnte endlich als "Turnverein München von 1860" firmierte.

Im Frühjahr 1904 verließen die Löwenfußballer den Schyrenplatz und bolzten auf einem Terrain am Heumarkt weiter, das nur wenige hundert Meter vom ersten Spielgelände entfernt lag. Beer zufolge war der Platz graslos und sumpfig, und als auch noch der Zaun, den man um das Gelände gezogen hatte, bei Nacht und Nebel gestohlen wurde, räumten die Löwen das Feld. Um den weiteren Verlauf ihrer Odyssee zu verfolgen, ist ein lokalgeschichtlich interessanter Spaziergang durch Unter- und Obergiesing nötig. Über die Untere Weidenstraße wandert der Löwen-Sozi-Tross in die Birkenau, in alten Zeiten ein Überschwemmungsgebiet, das man im 19. Jahrhundert trockenlegte und kleine einstöckige Doppelhäuser darauf errichtete, von denen einige wenige den Weltkriegsbomben und Investoren getrotzt haben. Dann das sogenannte Klein-Venedig in der Mondstraße, wo der Auer Mühlbach an wildromantisch bepflanzten Terrassen und Dachgärten vorbeifließt, danach ein paar Erinnerungen an die riesige Giesinger Lederfabrik, die bis 1932 das Viertel mit Gestank überzog, und schließlich geht es, vorbei an einem alten Herbergshäuschen, bergaufwärts nach Obergiesing. Roman Beer erzählt vom Irrenhaus am heutigen Kolumbusplatz, um das sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Au und Giesing stritten, weil beide Gemeinden nach der Malzsteuer für das dort großzügig ausgeschenkte Bier schielten. Am Ende siegten die Giesinger, was deren Gemeindekasse ausgesprochen gut tat.

Früher war der FC Bayern Mieter des TSV 1860 im damaligen Heinrich-Zisch-Stadion

Die Irrenanstalt wurde 1859 geschlossen, ein Jahr später, witzelt Löwenfan Beer, "sind die Irren dann woanders hingegangen". Damit war man wieder bei 1860. Nach einem Intermezzo in Holzapfelkreuth pachteten die Löwen vom Giesinger Großgrundbesitzer Kaspar Peter, dem Krebsbauern, ein Grundstück am heutigen Alpenplatz, das sich aber bald als zu klein erwies. Geeigneter war eine weiter südlich gelegene Wiese, die man 1911 wiederum vom Bauern Peter pachtete. Dort stattete der Verein den Fußballplatz mit einer hölzernen Sitztribüne für 160 Zuschauer aus, die im Volksmund "Zündholzschachterl" genannt wurde. 1922 erwarben die Löwen das Gelände für 700 000 Mark. Damit war die Grundlage geschaffen, ein richtiges Stadion zu bauen. 1925 ging es mit dem Bau einer Stehhalle los, sukzessive wurde das Stadion auf 35 000 Plätze erweitert.

Auch andere Münchner Klubs spielten in der damals größten Arena Süddeutschlands, die nach dem 1860-Präsidenten Heinrich Zisch benannt wurde. "In dieser Zeit war der FC Bayern Mieter von 1860", sagt Beer wehmütig. Die Einnahmen reichten aber nicht, um die Schulden und laufenden Kosten des Vereins auf Dauer zu begleichen - ein Zustand, den der Verein seitdem wie eine gute alte Tradition pflegt. 1937 mussten die Löwen das Stadion für 357 560 Reichsmark an die Stadt verkaufen - dennoch ist es bis heute der Sehnsuchtsort vieler Löwenfans.

© SZ vom 31.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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