Hilfestellung:Ein Gefühl für Mode

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Besondere Beratung: Kaufhof-Verkäuferin Ruth Kern (links) beschreibt der blinden Kundin Anna Garbe die Kleidungsstücke. (Foto: Robert Haas)

Anna Garbe ist blind, doch shoppen geht sie trotzdem gerne. Im Kaufhof am Stachus helfen speziell geschulte Mitarbeiter Sehbehinderten beim Einkauf

Von Franziska Gerlach, München

Manchmal liegt in der Mode zwischen top und Flop nur ein Detail. Einen nach dem anderen berührt Anna Garbe die kleinen Knöpfe am Ausschnitt, fährt mit den Fingern die Leiste hinab. Als es nach einigen Zentimetern nicht mehr weitergeht, ist das T-Shirt aus dem Rennen. "Ich mag Knopfleisten nur, wenn sie durchgängig sind", sagt sie. Macht aber nichts. Schließlich gibt es hier, in der Abteilung für junge Mode im Kaufhof am Stachus, genug Alternativen. Und es gibt gleich zwei speziell geschulte Mitarbeiterinnen, die der blinden Kundin bei der Auswahl der Kleidungsstücke helfen. Seit 2008 können Menschen mit Sehbehinderung diesen Service im Kaufhof nutzen.

Eine knappe Stunde später bezahlt die 29 Jahre alte Münchnerin an der Kasse ein T-Shirt. "Es hat sich gut angefühlt", sagt Garbe. "Und so etwas habe ich auch noch nicht." Und ja, natürlich habe ihr die Mitarbeiterin im Kaufhof das Kleidungsstück auch gut beschrieben. Wie die Spitze verläuft, den cremefarbenen Ton. Dinge, die Garbe verborgen bleiben. Fünf Jahre war sie alt, als Ärzte eine Autoimmunerkrankung diagnostizierten, die bei ihr so gravierend verläuft, dass ihr Sehvermögen heute weniger als zwei Prozent beträgt. Doch auch wenn sie ihre hübschen Grübchen und ihr charmantes Lächeln nicht mehr selbst im Spiegel sehen kann, so ist es ihr freilich nicht egal, wie sie aussieht. Im Gegenteil. "Dann interessiert es einen ja noch mehr, weil man es selber nicht mehr überprüfen kann", sagt die junge Frau, die Kinogänger aus dem Imagefilm der Aktion Mensch kennen.

Lernt sie selbst neue Leute kennen, lässt sie sich diese gern beschreiben. Und für Mode interessiert sie sich nicht nur, sie hat sogar ein ausgewiesenes Händchen dafür: Zu einer schwarzen Röhrenjeans trägt sie eine locker geschnittene Wildlederjacke, dazu flache, schwarze Stiefeletten. Ihre langen Haare fallen ihr in weichen Stufen über die Schultern, ihre Augenlider lässt Garbe sich morgens von ihrer Mitbewohnerin schminken. Das Bild von einer Welt, in der jegliches Interesse am Visuellen erloschen und alles nur noch Riechen, Hören und Tasten ist, im Fall von Garbe muss es korrigiert werden. "Viele glauben ja auch, dass jemand Super-Sinne hat, wenn er blind ist", sagt sie. Das sei aber nicht so. Man nutze diese allenfalls besser. Insbesondere aber hat sie gelernt, ihre Wünsche klar zu kommunizieren. Und Hilfe anzunehmen. Nicht eine Sekunde zögert Garbe, ehe sie im Kaufhof nach dem Arm der Mitarbeiterin greift, der sie sicher in die Abteilung im ersten Stock führt.

Von ihrer Krankheit erzählt Garbe ebenfalls ohne zu zögern. Lange Jahre halfen Medikamente, dann wirkten sie irgendwann nicht mehr. 2011 verschlechterte sich der Zustand ihrer Augen massiv. "Das war ein ordentlicher Einbruch", sagt sie. Zunächst sah sie noch 20 Prozent, dann immer weniger. Heute ist die junge Frau, die 2007 zum Psychologiestudium an die Isar kam, auf einen Blindenstock angewiesen. In der Maxvorstadt, wo sie wohnt, lässt sie die ausklappbare Orientierungshilfe souverän über den Asphalt hüpfen, rhythmisch schwingt er zu ihren Schritten. Hier kennt sie jede Kreuzung, jedes Café.

Den Weg zur Psychiatrie in Haar aber, wo sie sich gerade zur psychologischen Psychotherapeutin ausbilden lässt, musste sie extra trainieren. Und wenn sie München auch für seine zahlreichen Blindenampeln lobt, so bereiten ihr unachtsam auf dem Bürgersteig abgestellte Fahrräder, unregelmäßige Lautsprecheransagen an S-Bahnhöfen oder vorbeihetzende Fahrgäste doch Probleme. Auf Shoppingtour begibt sie sich daher nur mit ihren Freundinnen, am liebsten mit einer, die sie schon seit 19 Jahren kennt. "Sie kennt meinen Stil und hat Spaß daran, jedes Teil mit mir durchzugehen", sagt Garbe. Auch über modische Neuerungen hält sie die Freundin auf dem Laufenden. Zum Beispiel, dass irgendwann plötzlich alle ihre T-Shirts vorne in die Hose steckten und hinten heraushängen ließen.

Lieber als in Kaufhäuser, wo Warentische oft Hindernisse darstellen, kauft Garbe in Boutiquen oder Secondhandläden ein. Früher liebte sie es, über Flohmärkte zu bummeln - doch das geht nicht mehr. Wenn es hell ist, kann Garbe Kontraste, Konturen und auch Farben wahrnehmen. Eine App soll überdies helfen, diese genau zu definieren. Das klappt mal besser, mal schlechter. "Grau", flötet eine Frauenstimme, als Garbe ihr Smartphone im Kaufhof über das T-Shirt mit der Knopfleiste hält. Da ist es vielleicht doch besser, der freundlichen Einkaufsbegleitung zu vertrauen, die ihr die Farbe als "kühlen Grünton" beschreibt. Eine lohnenswerte Erfahrung? Allemal. Und ein sinnvolles Angebot, wie Garbe findet. Gerade für Leute, die niemanden hätten, der mit ihnen einkaufen gehe.

© SZ vom 04.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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