Hilfe am Telefon:"Wir lassen sie nicht im Stich"

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Der Krisendienst der Psychiatrie ist eine Anlaufstelle für jene, die nicht mehr weiterwissen

Von Elisabeth Gamperl

Der Zusammenbruch kam unangemeldet. Kerstin trank und kiffte schon länger nicht mehr, auch in ihrer neuen Wohngemeinschaft lief es eigentlich ganz gut. Doch dann verliebte sie sich unglücklich, und an diesem Abend kroch der Selbsthass wieder in ihr hoch. Sie wusste nicht weiter, nahm ein Messer und schnitt sich in die Unterarme. Heute sagt sie: "Ich wollte mich zerstören." Irgendwann fiel ihr die Nummer wieder ein, die ihr ein Psychiater bei einer Untersuchung mitgegeben hatte: 0180/ 65 53 000. Die Notfallnummer des Krisendienstes der Psychiatrie. Sie griff zum Telefon. Die Frau am anderen Ende der Leitung wurde in 20 Minuten zur Lebensretterin. Kerstin schilderte ihre Situation und versprach, für den nächsten Tag einen Termin beim Psychiater auszumachen. Dann legte sie sich in die Badewanne, um wieder runterzukommen.

Beim Krisendienst der Psychiatrie in Sendling klingelt 10 000 Mal im Jahr das Telefon. 10 000 Mal im Jahr rufen hier Menschen wie Kerstin an. Menschen, die nicht mehr weiterwissen und schnell Hilfe brauchen. Die sich nicht zu einem Psychiater wagen und sich niemandem anvertrauen wollen. Die sich aber trauen, die Nummer des Krisendienstes zu wählen.

Die Leitstelle befindet sich im Atriumhaus an der Bavariastraße 11. Der Raum, in dem die Lebenskrisen besprochen werden, ist karg eingerichtet. Eine grüne Kaffeekanne steht auf dem Tisch, daneben liegen Taschentücher und Stifte. Zwei Mitarbeiter mit Headset kümmern sich pro Schicht um die Anrufer. Die Nummer ist derzeit sieben Tage die Woche von 9 bis 24 Uhr erreichbar.

Jede Schicht ist mit zwei Mitarbeitern besetzt. Wenn sie im Gespräch sind, läuft ein Band, auf das Anrufer sprechen können. (Foto: Stephan Rumpf)

Die Mitarbeiter versuchen durch das Gespräch, die Lage zu beruhigen, zu beraten oder in akuter Notsituation ein mobiles Einsatzteam zur betroffenen Person zu lotsen. Um die 60 Mitarbeiter zählt der Krisendienst derzeit, bis 2019 sollen es um die 600 werden. Bis dahin soll der Krisendienst auch auf weitere Landkreise ausgeweitet werden.

Das Sorgentelefon läuft vor allem montags heiß oder nach Feiertagen wie Weihnachten. In einer Datenbank wird jeder Anruf festgehalten. "Manchmal kommt es vor, dass jemand öfters anruft. Da ist es schon gut, die jeweilige Vorgeschichte zu kennen", sagt Sozialpädagogin Amöna Woyde, die seit 2011 am Krisentelefon sitzt und nun auch mit dem Ausbau des Dienstes betreut ist.

Die Telefonate beginnen oft mit einem schlichten: "Mir geht es schlecht." Das kann viel bedeuten. Manche Anrufer sind tieftraurig, weil ihr Hamster gestorben ist, andere leiden seit Jahren an Depressionen oder sind gar selbstmordgefährdet, erzählt Woyde. Die Mitarbeiter versuchen die Anrufer zu beruhigen und als allererstes die Situation abzuklären. "Wir fragen nach dem Auslöser der Krise", sagt Woyde, "und versuchen die Krise in Worte zu fassen." Am Ende des Gesprächs wird dem Anrufer eine Perspektive mitgegeben. Manchmal helfe ein beruhigendes Bad, wie bei Kerstin, oder eine gute Mahlzeit. In manchen Fällen wird eine stationäre Behandlung in einer Psychiatrie empfohlen, oder ein Team besucht den Anrufer in seiner Wohnung. So ein mobiler Einsatz kann von 20 Minuten bis zu fünf Stunden dauern, sagt Andrea Kreppold-Roth, sie ist die Gebietskoordinatorin des Krisendiensts.

Manchmal sind es die Angehörigen, die die Nummer des Nottelefons wählen und rasche Hilfe anfordern. "Als Partner oder als Familienmitglied kann es echt hart sein, jemanden psychisch leiden zu sehen", sagt Kreppold-Roth. Die Situation kann für den Angehörigen oder die Person aber auch so gefährdend sein, dass ein Einsatzteam nötig ist, um den Menschen zu einem stationären Aufenthalt zu überreden.

Die Arbeit der Helfer hört aber nicht mit dem Telefonat auf. "Wir lassen sie nicht im Stich", sagt Kreppold-Roth. Auch nach dem Gespräch werden die Hilfesuchenden betreut und begleitet. Schließlich müsse man ihnen die Angst nehmen, sagt Kreppold-Roth. "Psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen ist an sich schon nicht einfach", sagt sie. Die Anrufer sollen sich am Telefon willkommen fühlen. Es gibt deshalb auch kein Besetztzeichen. Sind die Leitungen des Krisentelefons belegt, kann man auf den Anrufbeantworter sprechen. Die Mitarbeiter rufen dann zurück, sobald es möglich ist.

Kerstin wählte 2008 die Krisen-Nummer. Seither kommt sie immer wieder in das Atriumhaus. "Da muss ich nicht viel erzählen, man kennt mich hier schon und hier vertraue ich den Leuten", sagt Kerstin. Mittlerweile läuft es gut bei ihr, erzählt sie. Sie ist froh, dass sie damals die Nummer gewählt hat. Wer weiß, welches Ende der Abend sonst genommen hätte.

© SZ vom 03.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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