Heimatlose Fans:Lieber Abstieg als Fröttmaning

Lesezeit: 4 min

Manchen Fans ist das Stadion wichtiger als der Verein - die Debatte um Ausschreitungen und Gewalt bei den Amateurderbys in Giesing halten viele für überzogen

Von Thomas Schmidt, München

Der Mann in Schwarz flieht über den Rasen, und die Löwen folgen ihm. Das Rudel stürmt die Zäune, hetzt aufs Grün des Grünwalder Stadions, will Rache nehmen. Wofür? Kurz zuvor, es ist die 85. Spielminute, hat der Schiedsrichter ein Foul der Sechzger im Strafraum gepfiffen. Den fälligen Elfer versenkt Schweinfurt 05 zum 1:1. Dutzende Blaue fallen über den Spielleiter her. "Er wurde mit Karateschlägen und Fußtritten traktiert", schreibt die Abendzeitung nach den Ausschreitungen vom 26. September 1982. Der Schiri wird übel zugerichtet, ein Bursche zieht ihm eine Flasche über den Schädel. Auch Ordnungskräfte ernten Schläge, Rowdys zerfetzen die Uniform eines Polizisten. Machtlose Ordnungsmacht. So war das damals. Und heute?

Mehr als drei Jahrzehnte später, beim Regionalliga-Derby der blauen gegen die roten Amateure am vergangenen Ostermontag, ist die Polizei vorbereitet. Eine kleine, wohlorganisierte Armee bringt sich in Stellung. 1200 Beamte rücken an, Giesings Höhen werden zur Festung. Sicherheitszonen, gesperrte Straßen und Tramlinien, Fahrzeug-Kolonnen bilden Wagenburgen. Die Polizei kündigt schon im Vorfeld eine "niedrige Einschreitschwelle" an, man werde "konsequent gegen jegliche Art von Störung" vorgehen. Kein Kuschelkurs. Die Leitung übernimmt Polizeivizepräsident Robert Kopp. Ein Regionalliga-Kick ist zur Chefsache geworden.

Wie konnte es dazu kommen? Werden die Polizeieinsätze - und damit die Belastungen für die Anwohner - immer massiver? Wenn schon Amateur-Spiele so gefährlich sind, wie können die Löwen dann jemals zurückkehren an ihre Heimstätte? Die erste Mannschaft des TSV 1860 spielt schon seit zehn Jahren nicht mehr im Städtischen Stadion an der Grünwalder Straße. Ihre bislang letzte Saison dort verdanken die Fans ironischerweise dem sportlichen Abstieg in die zweite Liga 2004. Für ein Jahr kehrte der blaue Profifußball aus dem Olympiastadion zurück nach Giesing. Anschließend mussten Mannschaft und Fans nach Fröttmaning übersiedeln. Viele Fans fühlen sich seither als Heimatvertriebene im Feindesland, während die Fundamente ihrer geliebten Kultstätte zunehmend in Gefahr gerieten.

(Foto: Fritz Neuwirth)

Der Rasen war kaum kalt, schon regten sich Stimmen im Stadtrat, das Sechzger niederzuwalzen, um sich die Unterhaltskosten zu sparen. "Ich war hoffnungslos", erinnert sich Axel Dubelowski, Spitzname: der Löwenbomber. Die Fans fürchteten, dass ein Einkaufszentrum oder ein Hotel auf eben jener Erde gebaut werden könnte, die einst die Heimat der Löwen war. "Mir ist das Stadion wichtiger als der Verein", sagt der Bomber, bis 2014 Fanbeauftragter des TSV. "Ich bin dort aufgewachsen. Bayern hat im Sechzger nie einen Titel geholt, aber wir sind dort Deutscher Meister geworden." Ein graues Rondell aus Stahlbeton und Plastik soll wichtiger sein als der Verein? Wichtiger als der sportliche Erfolg? "Ein Klassenerhalt würde nur das Leiden in Fröttmaning verlängern. Ich bin deshalb inzwischen für den Abstieg in die dritte Liga", sagt Dubelowski, "damit wir so schnell wie möglich wieder im Sechzger spielen können. Jetzt oder nie mehr."

Es gibt viele Sechzig-Fans, die denken wie der Bomber. Lieber Abstieg als Fröttmaning. Bloß zurück nach Hause.

Wer seit den Siebzigern Blauer wurde, der verliebte sich nicht wegen sportlicher Höhenflüge. Die Fans wählten bewusst einen Verein, der andere Werte aufweise, schreibt Roman Beer im Buch "Kultstätte an der Grünwalder Straße". Underdog statt Krösus, Stehhalle statt VIP-Loge, Nostalgie statt Gegenwart. "1860 heißt für sie harter und ehrlicher Kampf." Nicht zuletzt ist es der Giesinger Rasen, der seit mehr als hundert Jahren für diese Werte steht. Der harte Kampf aber wird immer wieder zum Problem, der Kampf jenseits der Tribünen. Nimmt man die Einsatzstärke der Polizei als Indikator für das Gewaltpotenzial der Fans, muss sich die Bedrohung offenbar verdreifacht haben. Bei den Amateur-Derbys der vergangenen Jahre reichten 400 Beamte zur Sicherung, am Ostermontag aber waren es 1200. Nimmt die Gewalt rund um das Grünwalder also zu?

Statistisch gesehen sei eigentlich das Gegenteil der Fall, sagt Lothar Langer, 49, vom Fanprojekt München. In den Siebzigern und Achtzigern sei es weit brutaler zur Sache gegangen. "Es gab fieseste Schlägereien mit schlimmen Verletzungen und vielen Beteiligten", sagt Langer. Natürlich würden vereinzelte Löwenfans bis heute immer wieder Grund zum Einschreiten der Polizei geben, das sei mit damals aber nicht zu vergleichen - und erst recht nicht tauglich als "Standardeinschätzung zur dauerhaften Einsatzlage". Die Hatz auf den Schiri 1982 ist nur eines von vielen Beispielen. Immer wieder kam es früher zu heftigen Tumulten, die SZ schrieb 1982 von einer "erschreckenden Brutalisierung", von "Auseinandersetzungen, die hart an Mord und Totschlag grenzen".

Bei den jüngsten Amateurderbys ging die Polizei massiv gegen randalierende Fans vor. (Foto: Claus Schunk)

Dagegen wirkt die Bilanz vom Osterderby fast wohlerzogen: Zwölf Festnahmen wegen Körperverletzung, Bengalos, Böllern und Beleidigungen. Dazu noch fünf Ordnungswidrigkeiten. Die befürchteten Ausschreitungen blieben aus. Stattdessen teilte die Polizei der Presse mit, sie sei "erschrocken über den Hass in den Augen" der Fans. Für Polizeivizepräsident Kopp steht fest: "Jetzt sehen alle: Es ist genug."

"Fakt ist doch, es hat vorher mit 400 Polizisten funktioniert", sagt Markus Drees, Vorsitzender der Freunde des Sechzger Stadions. "Dass man jetzt 1200 hinschickt, ist reine Stimmungsmache, um die Bevölkerung aufzuwiegeln und anschließend sagen zu können, was kostet das alles den Steuerzahler?"

Heute ist das Stadion besser gesichert als je zuvor. Die Polizei betont, sie müsse Gewalttäter einschüchtern und Bürger schützen. Schuld seien die marodierenden Anhänger. Fan-Vertreter fordern sogar den Schutz durch die Polizei, halten das Ausmaß der Einsätze aber für grotesk. Drees erinnert an die Saison 2004/2005, die kurze Rückkehr der Löwen nach Giesing. Die Anwohner hatten seit zehn Jahren keinen Profifußball mehr im Viertel erlebt. "Da war eine Familie", sagt Drees, "die hatte Angst, dass bald Tausende Wilde durch ihren Vorgarten ziehen und dass sie die Kinder zum Schutz einsperren müssen." Als wider Erwarten doch keine Geisteskranken brandschatzend in den Gassen wüteten, hätten die Kinder auf dem Gehweg Getränke an die Fans verkauft, "ein Euro pro Limo", sagt Drees.

"Der Fußball ist bis heute in Giesing verortet", sagt Langer, der dort aufgewachsen ist. Gerade die jetzige Fan-Generation solle sich damit auseinandersetzen und ihren Teil beitragen. "Wenn es der Verein schon nicht macht, dann steht die Fanszene quasi als Werbeträger in der Verantwortung." Den Nachbarn sei das Stadion allemal lieber als ein Einkaufszentrum. Den Hauptgrund für die Polizeipräsenz sieht er im "immens gestiegenen kommerziellen Interesse" am Fußball. Wenn "millionenfach mehr Augen auf diesen Sport schauen", steige auch das Bedürfnis, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. "Wäre es auch mit weniger Polizei gegangen?", fragt Drees. "Ich denke ja."

Wenn künftige Polizeieinsätze nicht zu Belagerungszuständen ausarten und sich die Fans nicht wie Neandertaler gebären, wie realistisch ist dann eine Rückkehr der Löwen? Letztlich sei es eine Frage des politischen Willens, sagt Drees. Seit Oberbürgermeister Dieter Reiter gesagt hat, er könne sich sogar Zweitliga-Fußball an der Grünwalder Straße durchaus vorstellen, "haben sich einige Zweifel in Luft aufgelöst".

Geht es nach Drees, dann ist diese Luft bald wieder voll von Fangesängen, die vom Wind durchs Viertel getragen werden. Dann lauscht Giesing und weiß, die Löwen sind zu Hause.

© SZ vom 06.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: