Heckscher-Klinik wird 80:"Seismographen der Gesellschaft"

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Jugendpsychiater und Klinikleiter Franz J. Freisleder über die Geschichte seiner Disziplin und die Situation der Kinder von heute.

Martin Thurau

Vor 80 Jahren machte eine Spende von 500.000 Reichsmark den Aufbau der Heckscher-Klinik möglich. Heute ist sie ein anerkanntes Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Im Interview lässt der Ärztliche Direktor Franz Joseph Freisleder die Geschichte der Klinik Revue passieren.

Franz Joseph Freisleder sagt: "Kinder müssen die notwendige Luft bekommen, um sich normal zu entwickeln." (Foto: Foto: Catherina Hess)

SZ: Wie hat man sich das Haus und die Arbeit mit psychisch kranken Jugendlichen damals vorzustellen?

Freisleder: Betreut hat die Einrichtung damals vor allem Kinder, die hirnorganisch auffällig und vermutlich minderbegabt waren. Schließlich gab es in den Zwanzigern noch keine strikte Abgrenzung von psychiatrischen und neurologischen Krankheiten. Das Fach Kinder- und Jugendpsychiatrie mit eigenen Störungsbildern und Diagnosen hat sich erst in den letzten 40 bis 50 Jahren entfaltet. Es war damals eher eine heilpädagogische Betreuung als eine Therapie im heutigen Sinne, und das Haus hatte eher Heimcharakter. Dass die Verweildauern in den Kliniken immer kürzer werden, ist ein moderner Trend. Noch vor 20 Jahren lag sie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie deutlich über 100 Tagen. Mittlerweile hat sie sich mehr als halbiert.

SZ: In welchem sozialen und medizinischen Umfeld ist die Klinik entstanden?

Freisleder: Es war die Zeit der Weimarer Republik. Und bis das Haus schließlich öffnen konnte, hatte die Weltwirtschaftskrise Deutschland bereits eingeholt. Die Gründung geht auf eine Stiftung des Deutsch-Amerikaners August Heckscher zurück. Ein paar Jahre zuvor war mit seinem Geld ein Hirnverletztenheim in München aufgebaut worden, um die große Zahl von versehrten Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg versorgen zu helfen, die an neurologischen Schädigungen litten. Der Chefarzt des Heimes, Max Isserlin, richtete sein Augenmerk aber auch auf psychisch auffällige Jugendliche, für die es kaum spezifische Angebote gab. So wurde unter seiner Leitung das zweite Haus, die alte Schwabinger Heckscher-Klinik, 1929 eröffnet.

SZ: Isserlin war ein Schüler Emil Kraepelins, der 1904 die Psychiatrische Klinik in der Nußbaumstraße gründete. In vielem galt Kraepelin als naturwissenschaftlich orientierter Widerpart zu Analytikern wie Sigmund Freud.

Freisleder: Die Kraepelinsche Schule, in der auch Isserlin groß wurde, war in der Tat biologisch-naturwissenschaftlich orientiert. Aber Isserlin hatte dennoch auch Interesse an der Versorgung Jugendlicher und den pädagogisch-erzieherischen Aspekten des Faches. Er war überzeugt, dass bei kranken Jugendlichen Therapie und Erziehung ineinandergreifen müssen. Isserlin wurde zum Geburtshelfer der Kinder- und Jugendpsychiatrie in München. Und was seinen akademischen Lehrer Kraepelin angeht: Der hat zwar vor allem sehr naturwissenschaftlich orientierte Ärzte wie Alois Alzheimer geholt, aber manche von ihnen kannten schon auch ihren Freud.

SZ: War die Klinik in der Nazizeit dem Zugriff der NS-Tötungsmaschinerie ausgesetzt? Gab es Verstrickungen von Mitarbeitern?

Freisleder: Im Dritten Reich wurden etwa 200000 geistig oder psychisch Kranke, darunter auch viele Kinder, im Rahmen von Tötungsprogrammen umgebracht. In der Heil- und Pflegeanstalt Haar-Eglfing beispielsweise wurden zwischen 1940 und 1945 rund 300 Kinder getötet, man ließ sie verhungern oder gab ihnen Luminal. Nach allem, was wir wissen, wurde während der NS-Zeit aus der Heckscher-Klinik dagegen kein Kind in eine der für den Krankenmord vorgesehenen Anstalten verlegt. Das ist wohl vor allem ein Verdienst der damaligen Chefärztin Maria Weber und der Ursberger Schwestern, die die Pflege im Haus versahen. Frau Weber soll sogar dafür gesorgt haben, dass im Rahmen der sogenannten T4-Aktion der Nazis keine Patientenfragebögen ausgefüllt und alle Kinder als "bildungsfähig" eingestuft wurden, was ihnen das Leben rettete.

SZ: In der Bundesrepublik hat sich erst langsam eine moderne Psychiatrie entwickelt, begleitet von schweren Richtungskämpfen, von der Psychopharmakologie bis hin zur Antipsychiatriebewegung. Haben solche Strömungen auch die Heckscher-Klinik erfasst?

Freisleder: Ich selbst bin seit 1986 am Haus. Das war die Zeit, als die essentiellen Verbesserungen, die die Psychiatrie-Enquetekommission des Bundestages aus den Siebzigern eingefordert hatte, zu greifen begannen. Und ich habe die Heckscher-Klinik nie als ein Haus erlebt, in dem es sehr dogmatisch zuging. Im Gegenteil: Es kamen hier stets viele therapeutische Strömungen zur Geltung, es gab und gibt psychoanalytisch-tiefenpsychologisch denkende Mitarbeiter, ebenso wie biologisch und - derzeit im Trend - verhaltenstherapeutisch orientierte, ohne dass daraus ein polypragmatischer Brei entsteht. Der Erfolg der letzten 20 Jahre beruht auf Therapieansätzen, die für die einzelnen Störungsbilder spezifisch, immer aber auch individuell zugeschnitten sind und das soziale und familiäre Umfeld berücksichtigen. Dazu kommt eine fundiertere Erfolgskontrolle. Da haben viele Ideen Platz. Und ich muss Ihnen sagen: Der Andrang in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist groß.

Lesen sie auf der nächsten Seite, wie sich psychische Krankheiten bei Kindern heute entwickeln.

SZ: Sind heute mehr Kinder psychisch krank?

Freisleder: Es gibt keinen dramatischen, aber einen moderaten Anstieg. Neuere Studien belegen, dass es etwa 18 bis 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen zwischen 0 und 18 Jahren während ihrer Entwicklung mindestens einmal nötig haben, um es mal flapsig zu sagen, zum Kinder- und Jugendpsychiater zu gehen. Das war vor 20 Jahren nicht unbedingt anders. Gestiegen aber ist der Anteil derjenigen, die tatsächlich längerfristig der Hilfe von Psychotherapeuten oder Kinderpsychiatern bedürfen. Er liegt bei zehn Prozent, um 1990 waren es nur etwa fünf Prozent der Heranwachsenden.

SZ: Immerhin eine Verdopplung.

Freisleder: Man darf dabei aber zweierlei nicht übersehen: Die Schwellenängste vor der Kinder- und Jugendpsychiatrie schwinden, es gibt kaum mehr einen Stigmatisierungseffekt. Das ist natürlich etwas Positives. Die Kehrseite ist aber, dass Eltern immer häufiger ein perfekt funktionierendes Kind wollen, dieses Bedürfnis ist ja fast schon ein gesellschaftlicher Zwang. Natürlich gilt es, tatsächliche Störungen so früh wie möglich zu erkennen - umso besser sind die Therapieaussichten. Doch müssen wir Eltern mitunter auch klarmachen, dass weiß Gott nicht alles behandlungsbedürftig ist. Die Kinder müssen die notwendige Luft bekommen, um sich normal zu entwickeln.

SZ: Aber machen nicht manche Lebensumstände, etwa der wachsende Leistungsdruck, Kinder krank?

Freisleder: Sicher, wir erleben es beispielsweise oft bei Grundschulkindern, die mit emotionalen Problemen zu kämpfen haben oder früh Symptome einer Depression zeigen, dass neben familiären und individuellen Problemen schulische Überforderung und Angst vor der Zukunft eine Rolle spielen. Und Kinder reagieren wie Seismographen auf gesellschaftliche Entwicklungen und Irritationen. Seitdem etwa die Finanzkrise Existenzängste schürt, noch mehr Arbeitslosigkeit und Armut drohen - durchaus eine Parallele zu unserem Gründungsjahr 1929 -, wird unsere Ambulanz noch stärker von Familien in prekären Lebenslagen in Anspruch genommen.

© SZ vom 29.05.2009/dab - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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