Gymnasiale Oberstufe in Bayern:Viel Frust und wenig Orientierung

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Lehrer und Professoren verlangen vom Kultusminister eine klarere Entscheidung bei G8 und G9 - und mehr Lehrplan-Klarheit

"Den Leerplan füllen" vom 29. August, "Übertrittsverfahren ist verfassungswidrig" vom 7. September und "Überholspur für das neue G 9" vom 8. September:

Was Hänschen nicht lernt . . .

Aus universitärer Sicht ist die G8/G9-Debatte geradezu gespenstisch, weil niemanden zu interessieren scheint, was die Kandidaten (auch süddeutsche Abiturienten) nach dem Abitur können. Die Universitäten haben praktisch keine Möglichkeiten, Defizite in der Allgemeinbildung aus eigenen Ressourcen zu bekämpfen. Wenn wenigstens die süddeutschen Bundesländer zu einer minimalen Wiedererhöhung der Kenntnisse in einigen Fächern kämen (Raster, zentrale Elemente, Zusammenhänge), wäre das ein erster Schritt zu echten Kompetenzen. Noch wichtiger ist die Fähigkeit, sich komplexe Gebiete systematisch selbst zu erarbeiten (anstatt allerlei Häppchen zu "präsentieren"). Die "Kompetenzen", von denen die Lehrpläne sprechen, sind jedenfalls zu Zwecken einer rechts- und geschichtswissenschaftlichen (Aus-)Bildung so gut wie wertlos.

Die oft ausgesprochen motivierten Studienanfänger müssen feststellen, dass sie in der Universität Dinge nachzuholen haben, die weitaus besser in der Schule vermittelt worden wären. Der oft beklagte Druck des G8 vermittelt ebenfalls keine hilfreiche Erfahrung, weil der berufliche Druck, auf den jedenfalls bestimmte Studiengänge vorbereiten müssen, ganz anderer Natur ist. Wenn die Schule dafür vorarbeiten will, dann sollte sie eines praktizieren: kontinuierliches Lernen und Reflektieren von Grundlagen unter strikter Fehlerkorrektur. Aber wer will seinen Wählern das zumuten? Prof. Dr. Christian Baldus, Heidelberg

Ministerialen an die Tafel

Es ist unverantwortlich, was die bürokratischen Theoretiker des Kultusministeriums den Schülern und Lehrern zumuten. Eine überflüssige Rechtschreibreform; überstürzte Einführung des G8 ohne jede Notwendigkeit, denn offensichtlich erfüllte das G9 durchaus seinen Zweck, wie die Wettbewerbsfähigkeit der hiesigen Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur - Ziel jeder schulischen Bildung - zeigt. Und nun eine Rolle rückwärts. Ein Nebeneinander von G8 und G9 stellt die Eltern in einem frühen Stadium der kindlichen Entwicklung vor völlig überflüssige Entscheidungsprobleme. Ein hochbegabtes Kind kann eine Klasse überspringen; ein Kind, das sich schwer tut, kann eine Klasse wiederholen, egal ob G8 oder G9. G8 und G9 in einer Schule verkompliziert die Verwaltung ungeheuer, bedeutet erheblich mehr Klassen und Lehrer und treibt einen Keil zwischen die Schüler. Wenn tatsächlich G8 und G9 angeboten wird, so müssen die entsprechenden Schulen für die gesamte Bevölkerung verfügbar sein, denn die Verfügbarkeit nur von G8 in einer Region und nur von G9 in einer anderen Region bedeutet eine erhebliche Chancenungleichheit, die einer gerichtlichen Überprüfung kaum standhalten dürfte. Fazit: Klare Entscheidung für ein einheitliches Gymnasium mit G8 oder G9 und Möglichkeit zum Überspringen oder zur Wiederholung einer Jahrgangsstufe, und schließlich: Umwandlung von Planstellen im Kultusministerium in Lehrerplanstellen, damit die unsäglichen, vom Kultusministerium initiierten Experimente und Spielchen unterbleiben und eine leistungsfördernde Ruhe in unser Schulsystem einkehrt. Dr. Heiko Barske, Seefeld

Gezinkte Lotterie

Der dritte Satz im Absatz (1) Artikel 126 der Bayerischen Verfassung lautet: "In persönlichen Erziehungsfragen gibt der Wille der Eltern den Ausschlag." Es wäre interessant zu erfahren, ob in dem abgenickten Urteil des Verfassungsgerichtshofs von 2014 dieser Satz berücksichtigt wurde. In meiner Klage zum Übertrittsverfahren gegen den Freistaat Bayern urteilte das Verwaltungsgericht über den Probeunterricht, dass der Staat das Recht hat, nach seinen Kriterien, Schüler auf weiterbildende Schulen zu verteilen, wenn ein gewisses Leistungsvermögen durch Noten erbracht ist.

Noten als Interpretation von Leistung sind im Einzelfall gut zur Orientierung. Durchschnittsnoten zur Leistungsdifferenzierung sind jedoch doppelter Unsinn: So ist zum Beispiel Mathe-Eins + Deutsch-Vier geteilt durch 2 der gleiche Unsinn wie 1 Apfel + 4 Kirschen geteilt durch 2. Das ist das Gleiche, wenn man bei einem Sportler die Platzierungen in Wettkämpfen zählt und feststellt, dass er im Durchschnitt den 2,33. Platz erreicht hat. Leistungsauslese nach Durchschnittsnote ist auf Unsinn beruhende, unfaire, gezinkte Lotterie. Im Übertrittsverfahren benachteiligt sie Schüler aus "bildungsfernem" Elternhaus, deren Eltern selten Kontakt zum Lehrer suchen, während "bildungsnahe" Elternhäuser nachhaltig (notfalls durch Zeigen der Visitenkarte ihres Rechtsanwaltes) erkennen lassen, dass schlechte Noten ihres Kindes kein Hindernis sind für den Übertritt aufs Gymnasium. Das ist die Erfahrung aus meinem Berufsleben von 1970 bis 2005 als Grundschullehrer. Bernd Seeberger, Mühldorf am Inn

Da geht viel mehr

Ein Lehrplan an Schulen ist nur dann erfolgreich, wenn er Gegenstand der öffentlichen Diskussion ist. Daher ist es gut, wenn sich die SZ an der Diskussion um den neuen "LehrplanPlus" in Bayern beteiligt. Schade ist aber, dass sie sich erneut eine recht einseitige Sichtweise eines Verbands aufzwingen lässt. Man mag die Stirn runzeln über den Widerspruch, dass die Experten des Philologenverbands einerseits Unterricht "ohne Zeitdruck und mit viel Übung fordern", dann aber schnell bei der Hand sind mit der Forderung, zum Beispiel im Fach Deutsch die Oberstufe wieder zu einem Grundkurs Literaturgeschichte auszubauen. Bereits jetzt ist nur (!) Goethes Faust Pflichtlektüre im Lehrplan, und trotzdem lesen sehr viele im Schuldienst aktive Kolleginnen und Kollegen mit ihren Kursen die angesprochene Pop-Literatur - ein Fehler wäre es in meinen Augen, solche Details im Lehrplan festzuschreiben und damit den Lehrkräften den Gestaltungsspielraum zu rauben. Zudem fällt unter den Tisch, dass der neue Lehrplan im Fach Deutsch erfreulicherweise andere Themen prominenter behandelt als bisher, zum Beispiel die Stilistik und das Schreiben. Hier scheint mir ein großer Gewinn zu liegen, den Süddeutsche Zeitung und Lehrerverbände leider nicht erkannt haben. Eine Darstellung mit dem Titel "Leerplan" ist plakativ, aber leider deutlich zu einseitig. Prof. Dr. Michael Rödel, München

Stückwerk

Bei allen Diskussionen und Beiträgen um G8 oder G9 ist auffällig, dass unverständlicherweise System und Inhalte der jetzigen Oberstufe dabei kein Thema sind. Ein Manko, meine ich, denn das eine kann man nicht ohne das andere diskutieren. Eine Verlängerung von G8 auf G9 ohne Gestaltung der Oberstufe muss Stückwerk bleiben. Die Oberstufe in der jetzigen Form kann man eigentlich nur als ziemlich mediokres Modell bezeichnen. Warum überhaupt die bestens bewährte und allseits anerkannte Kollegstufe mit ihren Leistungs-und Grundkursen abgeschafft wurde, war für Lehrerkollegien und Schulleiter nicht nachvollziehbar (angeblich, um die Vertiefung von Allgemeinwissen zu fördern, gegenüber der vermuteten Spezialisierung der Kollegstufe). Gedanklich und leider praktisch ein Rückfall in die alte Oberstufe der 50er und 60er Jahre. Die zusätzlich installierten sogenannten Seminare reißen das nicht raus. Die Kurse laufen im Übrigen nun mit Teilnehmerzahlen, die in der Regel um einiges größer sind als damals die Oberstufenklassen und natürlich auch größer als die ehemaligen Leistungskurse. Diesen war ein verpflichtendes Grundkursprogramm beigeordnet. Jeder Schüler musste - wenn er nicht gerade Deutsch und Mathematik als Leistungskurs hatte - verpflichtend Deutsch und Mathematik vier Halbjahre lang nicht nur belegen, sondern die erbrachten Leistungen ins Abitur einbringen, und zwar im Verhältnis 2:1 von schriftlich zu mündlich (heute 1:1 bei allen Kursen)! Es mussten weiter zwei naturwissenschafliche Fächer belegt und eingebracht werden, zusätzlich die gesellschaftswissenschaftlichen und künstlerischen Fächer und Sport. Man sieht, das gegen die Kollegstufe vorgebrachte Argument mangelnden Allgemeinwissens - eine Chimäre. Was nun die Studierfähigkeit nach dem jetzigen Oberstufenmodell angeht, können die Universitäten ein Lied singen. Gunter Rothmund, Margetshöchheim

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© SZ vom 15.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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