Gute Nachbarschaft:Kleine Heimat

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Zocken bei Feigen und Schokolebkuchen: Nach anfänglichen Schwierigkeiten hat der Spieleabend im Nachbarschaftstreff sein Publikum gefunden. (Foto: Florian Peljak)

Tausende Münchner treffen sich regelmäßig mit Menschen aus ihrem Viertel, um Karten zu spielen, zu kochen, aber auch, um sich gegenseitig zu helfen. 39 solcher Nachbarschaftstreffs gibt es inzwischen in der Stadt

Von Franziska Gerlach

Simon Fritz sitzt am Spieltisch wie einer, den nichts aus der Ruhe bringen kann. Fachmännisch wiegt er das Blatt in der Hand. Er schielt zu dem Mann, der links von ihm sitzt, holt einmal tief Luft. Dann legt er die Karte mit den Pfeilen ab. Richtungswechsel. Sein Nachbar zur Rechten ist dran.

Die Szene um den kleinen Stapel mit Uno-Karten als zügelloses Zocken zu bezeichnen, wäre übertrieben. Bei Feigen und Schokolebkuchen spielen hier nicht Nachbarn gegeneinander. Es spielen Nachbarn miteinander. Während es draußen zu nieseln begonnen hat, kommt drinnen im Nachbarschaftstreff, den das Wohnforum, eine Tochter der Wohnbaugesellschaft Gewofag, an der Oslostraße in der Messestadt Riem eingerichtet hat, die "Spielerunde für alle" in Fahrt. Fritz, 29 Jahre alt, hat die Gruppe vor zwei Jahren gemeinsam mit Peter Scheuer ins Leben gerufen. Seither schleppt er jeden ersten und dritten Donnerstag im Monat Gesellschaftsspiele in den hellen, großen Raum. "Wir wollten uns stärker vernetzen in der Messestadt", sagt Fritz. Und wobei gehe das besser als beim Spielen, wo man ganz automatisch miteinander kommuniziere?

Der Spieletreff ist freilich nur eine von vielen Aktivitäten, die sich als feste Größe im Programm des Nachbarschaftstreffs etabliert haben. 39 solcher Einrichtungen gibt es in der Stadt. Und jede davon werde im Schnitt von rund 200 Münchner regelmäßig genutzt, sagt Bernd Schreyer. Er ist beim Amt für Wohnen und Migration der Abteilungsleiter für soziale Wohnraumförderung und Wohnungslosenhilfe und hat die Institution des Nachbarschaftstreffs in den Münchner Wohnbauquartieren installiert. Ende der Neunzigerjahren entstanden die ersten Bewohnertreffs in Ramersdorf und an der Nordhaide - nach einem Vorbild aus Hamburg.

Doch den Vorsprung hat die Hansestadt im Norden längst eingebüßt. "In keiner anderen Stadt wurden die Nachbarschaftstreffs so konsequent ausgebaut wie in München", sagt Schreyer. Nicht nur in Neubaugebieten, sondern auch in Stadtvierteln, "wo die Selbsthilfekräfte schwach waren", wie er das formuliert. Wo Kinder unbeaufsichtigt über eine stark befahrene Straße rannten; wo es eben niemanden gab, der mit ihnen das kleine Einmaleins einübte. Für ihn sind Nachbarschaftstreffs Orte, an denen Integration und Inklusion stattfinden. Eine Prophylaxe gegen Ghettoisierung. Deshalb müsse gerade in einer Stadt wie München, die einen jährlichen Zuzug von gut 30 000 Menschen verzeichnet, Nachbarschaft aktiv gestaltet werden.

In den Nachbarschaftstreffs soll sich etwas vollziehen, was in Großstädten keine Selbstverständlichkeit ist: dass sich die verschiedenen Schichten der Gesellschaft durchmischen. Egal, ob Lehrer oder Dachdecker, ob Münchner oder Zuzügler, reich oder arm. Und egal, wie alt man ist. "Sowohl das Baby ist ein Nachbar, als auch der ältere Mensch", sagt Claudia Pichler, Projektleiterin des Nachbarschaftstreffs an der Oslostraße in der Messestadt. Dass dort mehr als 100 Nationen leben, lässt sich auch am Angebot ablesen. Indischer Tanz steht im Programmheft, Hatha Yoga und eine togolesische Kulturgruppe. Es sei den Menschen wichtig, so Pichler, die Kultur des Heimatlandes zu pflegen. Dabei stünden die Gruppen aber allen Nationalitäten offen - wie überhaupt die Leute im Treff sehr aufgeschlossen seien, initiativ und hilfsbereit. Steht etwa ein Sommerfest an, konnte Pichler sich zuletzt kaum retten vor freiwilligen Grillmeistern. Bei der Nachbarschaftsbörse, wie die drei Treffs am Ackermannbogen heißen, berichtet Mitarbeiterin Marcia Zieglmeier ebenfalls von einem hohen Engagement. Das Besondere: Der Träger ist hier nicht eine soziale Einrichtung oder eine Wohnbaugenossenschaft, sondern der Verein Ackermannbogen, dem zwölf Prozent der Einwohner des Quartiers angehören.

Jeder Treff in München sieht anders aus, und jeder ist das Abbild jenes Viertels, aus dem er erwachsen ist. Bei Mandy Rahnfeld, Projektleiterin des Nachbarschaftstreffs Hirschgarten in Trägerschaft des Vereins für Sozialarbeit, verwandeln sich die Räume mal in ein Eltern-Kind-Café, dann findet das Nähcafé statt, es gibt Urban Gardening und den Reisefieberabend. Gerade liegt Rahnfeld außerdem die Anfrage einer Frau vor, die in dem hübschen Zimmer mit dem gelben Sofa und den Baum-Applikationen an den Wänden ein Baby-Singen veranstalten möchte. Als Projektleiterin ist es ihre Aufgabe, die Bewohner im Viertel zu unterstützen. Im Sommer 2015 hat der Stadtrat zwar die dauerhafte Finanzierung einer halben Stelle pro Treff beschlossen. Doch eigentlich hatten sich viele Verantwortliche mehr Personal gewünscht. Manchmal müsse man eine Idee anschieben, berichtet Rahnfeld aus der Praxis. "Und manchmal braucht es nur den Schlüssel für einen Raum." Klar ist aber auch: Die gesellschaftliche Teilhabe in einem Nachbarschaftstreff macht Arbeit.

Allein mit Ehrenamtlichen trägt sich ein Treff nicht, finden die Frauen der Kochgruppe, die sich seit Oktober 2013 jeden zweiten Dienstag in der Küche des Nachbarschaftstreffs Hirschgarten zusammenfindet. An diesem Abend dampfen Spaghetti Bolognese auf den Tellern, mit Sellerie und Linsen statt mit Hackfleisch. Die Gespräche am Tisch sind die von Nachbarinnen, die sich angefreundet haben: Über vegane Ernährung und den Geburtstag einer Teilnehmerin reden sie, aber auch, wie sinnvoll es ist, die Grillstellen im nahe gelegenen Biergarten zu verlegen. Und natürlich geht es auch um den Nachbarschaftstreff selbst. Anja Püttmann, Leiterin der Kochgruppe, wiederholt dabei etwas, das vor einigen Jahren bereits die sogenannte Wirkungsanalyse, eine Bedarfsstudie der Hochschule München, ergeben hat. "Man braucht eine professionelle Projektleitung", sagt sie. Sonst würde manches, was gut gemeint ist, wieder einschlafen. Die Mutter einer kleinen Tochter versteht gut, dass der Wille zum Engagement manchmal größer ist als die tatsächlich verfügbare Zeit - gerade in einer Stadt mit überbordendem Freizeitangebot und Bewohnern, deren Tagesablauf bis auf die Minute durchgetaktet ist. Und wenn die kostenlosen Angebote der Treffs auch gerade für Münchner, deren Einkommen das tägliche Feierabendbier nicht hergibt, eine Alternative darstellen sollen: Sie sind nicht zwangsläufig ein Selbstläufer. Trotz des Herzblutes, das die Ehrenamtlichen in ihre Projekte investieren. Das musste in der Messestadt Riem auch Simon Fritz erfahren. Anfangs war es zäh, erzählt er, an manchen Abenden seien sie nur zu zweit da gesessen; inzwischen frönen sechs bis acht Leute regelmäßig der Lust an Gesellschaftsspielen.

© SZ vom 29.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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