Gerichtsverhandlung:Beinamputation durch Pflegefehler

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Schwere Vorwürfe gegen das Krankenhaus Harlaching: Gutachter stellt Behandlungsfehler fest. 74-jährige Patientin soll Schmerzensgeld bekommen.

Sven Loerzer

Wenn sich am Mittwoch die 9. Zivilkammer des Landgerichts München I wieder einmal mit einer seit vier Jahren anhängigen Klage auf Schmerzensgeld in Höhe von 45.000 Euro und Schadenersatz als Folge von schwerwiegenden Pflegefehlern beschäftigt, dann geht es um weit mehr als nur um Geld. In diesem Verfahren dreht sich alles um eine Frage: Wie werden alte, hilflose Menschen im Krankenhaus behandelt.

In dem Prozess dreht sich alles um eine Frage: Wie werden alte, hilflose Menschen im Krankenhaus behandelt. (Foto: Foto: oh)

Der Kläger, Sohn und Betreuer einer 74-jährigen Frau, ist überzeugt davon, "dass bei meiner Mutter etwas passiert ist, was zu verhindern gewesen wäre". Seine Mutter war vor fünf Jahren nach einem Schlaganfall einen Monat zur Behandlung im Städtischen Krankenhaus Harlaching. Nach ihrer Entlassung in ein Pflegeheim sind Wundliegegeschwüre festgestellt worden, die so schwer waren, dass der Frau ein Bein amputiert werden musste und sie seitdem im Rollstuhl sitzt. Der Anwalt des Klägers, Alexander Frey, wirft dem Krankenhaus folgenschwere Pflegefehler vor, "die höllische Schmerzen und horrende Kosten verursacht" hätten.

"Schicksalhafter Verlauf"

Die Anwälte der Klinik dagegen bestreiten, dass die pflegerische Versorgung nicht ausgereicht habe. Der Hautzustand sei bei der Entlassung als "in Ordnung" dokumentiert worden. Dass Stunden danach bei der Aufnahme ins Altenheim Druckgeschwüre durch Wundliegen, im Fachjargon Dekubitus, festgestellt worden seien, werten die Anwälte als "schicksalhaften Verlauf". Es sei bei Risikopatienten, die wie diese alte Frau unter Diabetes und Bluthochdruck leiden, durchaus möglich, dass sich ein Dekubitus Grad I und Grad II innerhalb weniger Stunden entwickeln kann.

Ein Arzt, den das Pflegeheim bei der Aufnahme hinzugezogen hat, bescheinigte, dass ein bereits infiziertes Durchliegegeschwür am Kreuzbein besteht, weitere Hautdefekte stellte er an der linken Kniekehle, am linken Außenfuß und an beiden Fersen fest. "Solche Geschwüre können nicht binnen zweier Stunden auftreten", sagt Klägeranwalt Frey, Mitbegründer des "Forums Pflege Aktuell".

Er sieht in diesen Läsionen die Folgen erheblicher Pflegefehler: Die alte Frau, die sich aus eigener Kraft nicht mehr bewegen konnte, sei fast jeden Tag mehr als zwei bis drei Stunden im Rollstuhl sitzengelassen worden, ohne sie zur Druckentlastung gefährdeter Körperpartien anders zu lagern. Auch sei keine Wechseldruckmatratze vorhanden gewesen, wie sie zum Standard für die Pflege von wundliegegefährdeten Patienten gehöre.

"Nachweisbare pflegerische Mängel"

Schon das fachärztliche Gutachten, das die Krankenkasse der alten Frau beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Bayern (MDK) in Auftrag gegeben hat, führt die Druckgeschwüre auf "nachweisbare pflegerische Mängel" wegen fehlender individueller Pflegeplanung des Krankenhauses zurück. Die nachfolgende korrekte pflegerische Versorgung im Altenheim habe eine Verschlimmerung nicht mehr verhindern können.

Der vom Gericht bestellte Gutachter vom renommierten Albertinen-Haus, dem Zentrum für Geriatrie und Gerontologie der Universität Hamburg, Chefarzt Professor Wolfgang von Renteln-Kruse, hat inzwischen in wesentlichen Punkten die Einschätzung von Anwalt Frey bestätigt. So stellte der Gutachter fest, dass eine schriftliche Pflegeplanung in der Krankenakte fehlt. Die dort dokumentierten Erkrankungen und Befunde machten jedoch "eine systematisch geplante und konsequent durchgeführte Dekubitusprophylaxe erforderlich". Eine solche sei aber der pflegerischen Dokumentation nicht zu entnehmen.

Die Frau sei zwar planmäßig umgelagert worden, allerdings seien angesichts des bekannten hohen Dekubitusrisikos die zeitlichen Intervalle deutlich zu lang gewesen. Sinnvoll wäre der Einsatz einer druckentlastenden Matratze gewesen. Außerdem bestünden erhebliche Lücken bei der Dokumentation der pflegerischen Maßnahmen. Der Dekubitus im Bereich der linken Kniekehle, der bei der Aufnahme ins Heim schon als eitrig belegt war, "ist mit Sicherheit bereits im Krankenhaus entstanden". Auch das Druckgeschwür über dem Kreuzbein sei älter als drei bis vier Tage, mithin müssten also beide Geschwüre in der Klinik entstanden sein.

Wegen drohender Blutvergiftung das linke Bein amputiert

Sein Resümee: Da das Krankenhaus trotz des hohen Risikos nicht "sämtliche Möglichkeiten zur konsequenten Prophylaxe" von Druckgeschwüren eingesetzt habe, liege ein Behandlungsfehler vor. Bei fachgerechter Pflege hätte sich das Entstehen der Hautdefekte "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" verhindern lassen.

Weil sich die im Altenheim entdeckten Druckgeschwüre trotz ärztlicher und pflegerischer Behandlung verschlimmern, kommt die alte Frau schließlich erneut in eine Klinik. Trotz der chirurgischen Eingriffe kommt es zu einer Knocheninfektion. Wegen drohender Blutvergiftung wird der Frau das linke Bein oberhalb des Knies amputiert.

Der 40-jährige Sohn hat nach der langwierigen Behandlung seine Mutter zuhause aufgenommen und kümmert sich zusammen mit seiner Familie um die Pflege, die ein ambulanter Dienst übernommen hat. Ein Druckgeschwür hat seine Mutter in den vier Jahren häuslicher Pflege nicht mehr bekommen. Zorn gegenüber der Klinik empfindet er nicht: "Ich will nur verhindern, dass es dem nächsten Patienten auch so geht, obwohl das zu verhindern gewesen wäre."

"Warum soll man darüber reden?"

Allerdings ärgert er sich, dass über das Dekubitusrisiko nie mit ihm gesprochen worden ist. Eine als Zeugin vernommene Krankenschwester aus dem Krankenhaus Harlaching fragte vor Gericht lapidar: "Warum soll man darüber reden?" Heute wüsste der Sohn, worauf er achten müsste: "Es gibt Krankenhäuser, in denen man die Uhr nach dem Drehen und Umlagern stellen kann. Aber damals habe ich noch keine Ahnung davon gehabt, was es für Pflegefehler geben kann."

Eva Ohlert, die sich als Pflegefachkraft beim "Forum Pflege Aktuell" engagiert, sagt, "die Dekubitusprophylaxe gehört zu unserer Grundausbildung". Es sei "erschütternd, dass die einfachsten Sachen, die man gelernt hat, nicht gemacht wurden". Schuld sei oft aber auch die enge Personalsituation: "Drei Pflegekräfte für 30 Schwerstkranke, das geht nicht." In einem Kindergarten, sagt der Sohn der schwerstbehinderten Frau, gebe es einen Aufstand der Eltern, wenn nicht genügend Personal da sei. Im Krankenhaus fehlt solch eine Lobby.

© SZ vom 04.11.2008/reb - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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