Gedächtnisvorlesung:Aufklärung an einem Täterort

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Bei der Weiße-Rose-Gedächtnisvorlesung geht es um Erinnerungsformen im öffentlichen Raum

Von Wolfgang Görl

Jeder, der halbwegs ein Sensorium für Geschichte hat, kennt das Phänomen: Historische Orte haben eine Art Fluidum, eine spezifische Aura, die den Besucher in Bann schlägt. Wer etwa den Lichthof der Ludwig-Maximilians-Universität betritt und weiß, dass die Geschwister Scholl hier ihre letzten Flugblätter abgeworfen haben, wird diese Eingangshalle als Ort des Widerstands gegen die NS-Diktatur wahrnehmen. Historische Orte sind "unersetzbar für jede Form der Erinnerung", sagt Winfried Nerdinger, der Gründungsdirektor des Münchner NS-Dokumentationszentrums. Was aber ist dabei zu berücksichtigen? Oder, anders gesagt: "Wie erinnern an die NS-Zeit im öffentlichen Raum?" Diese Frage erörterte Nerdinger in seiner "Weiße-Rose-Gedächtnisvorlesung" am Dienstagabend im Auditorium Maximum der LMU.

Ehe Nerdinger den Fokus auf München richtete, ließ er die erinnerungspolitische Praxis in Österreich, in der DDR und der Bundesrepublik Revue passieren. Wie dort jeweils mit der NS-Geschichte umgegangen wurde, sagt, so Nerdingers These, viel über die jeweilige Gegenwart aus. Österreich habe sich schon gleich nach dem Krieg als erstes Opfer des Nationalsozialismus stilisiert, entsprechend gering war die Bereitschaft, im öffentlichen Raum Erinnerungszeichen an die braunen Jahre zu setzen. In der DDR wurden weitaus mehr Gedenkstätten und andere Zeichen des Erinnerns geschaffen, die aber vor allem der Staatsdoktrin dienten, derzufolge die DDR aus dem siegreichen kommunistischen Kampf gegen den Faschismus hervorgegangen sei. In der Bundesrepublik wiederum gedachte die Kriegsgeneration zuerst derjenigen, die im Widerstand gegen die NS-Diktatur ihr Leben geopfert hatten. Doch selbst dies, so Nerdinger, war umstritten, weshalb es Jahrzehnte dauerte, bis auch Kommunisten, Sinti und Roma, Homosexuelle und andere Verfolgte des öffentlichen Gedenkens für würdig erachtet wurden. In den westdeutschen Städten entstanden in den ersten Nachkriegsjahrzehnten zwar Erinnerungsorte für die "Opfer des Nationalsozialismus", da sich aber fast alle als Opfer fühlten, blieb die Differenzierung nach Tätern und Ursachen aus.

In München, der einstigen "Hauptstadt der Bewegung", war man noch ausdauernder als anderswo darauf bedacht, sich auf diese Form der verschleiernden Erinnerung zu beschränken. Bereits 1946 wurde eine Verkehrsinsel zum "Platz der Opfer des Nationalsozialismus" erklärt. Als Erinnerungszeichen begnügte man sich mit einem Straßenschild. Einen Täterort wie die Gestapo-Zentrale an der Brienner Straße räumte man rasch ab, um das Areal - Stadt und Freistaat waren die Akteure - schließlich zu verkaufen. Und über die von der US-Militärregierung gesprengten "Ehrentempel" am Königsplatz ließen die Verantwortlichen buchstäblich Gras wachsen.

Erst in den Neunzigerjahren war die Stadt soweit, ernsthaft ein Dokumentationszentrum anzustreben, wobei sich die Diskussion auf den Standort des ehemaligen "Braunen Hauses" konzentrierte. 70 Jahre nach Kriegsende wurde dort das NS-Dokuzentrum eröffnet. Nerdinger zufolge ist dessen Aufgabe, die Ursprünge der NS-Ideologie und der NSDAP in München zu analysieren, die Gesellschaft im Nationalsozialismus darzustellen und das Fortleben des NS-Erbes sowie Initiativen gegen das Vergessen zu dokumentieren. "Das NS-Dokumentationszentrum ist deshalb keine Gedenkstätte oder Museum, sondern ein Ort der Aufklärung an einem Täterort, es ist ein Ort, an dem das Licht der Vernunft die dunkle Vergangenheit ausleuchten soll."

© SZ vom 04.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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