SZ-Serie Inklusion (Teil 11):Auf dem Weg zur inklusiven Stadt

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Germering bemüht sich, seinem Ruf als besonders behindertenfreundliche Kommune gerecht zu werden. Alles, was öffentlich gebaut wird, soll mehr als nur Standard sein. Im Hintergrund wirkt der am längsten bestehende Behindertenbeirat im Landkreis mit

Von Karl-Wilhelm Götte, Germering

Der Aufzug im Germeringer Rathaus spricht. Kommt er im Erdgeschoss an, zählt er auf, dass dort das Bürgerbüro und das Trauungszimmer zu finden ist. Wozu denn das? Geldverschwendung? Ganz und gar nicht. Steigt der Mitfahrer in den Aufzug ein und drückt die Ziffer einer der sechs Etagen, wird ihm genau erläutert, dass sich das Ordnungs- und Meldeamt im ersten oder der Sitzungssaal des Stadtrates im sechsten Stock befindet. Besonders blinde- und stark sehbehinderte Menschen sind für diesen Service dankbar, den das Germeringer Rathaus bietet. Ist dies nur ein barrierefreier Inklusionssplitter oder ist Germering auf dem Weg zu einer Inklusionsstadt oder besser zu einer weitgehend barrierefreien Kommune schon weit fortgeschritten?

Fest steht: Germering gilt als "soziale Stadt", die in vielen Bereichen sogar bayernweit als Modellstadt gilt. Bereits 1988 bekam die Stadt einen Preis als behindertenfreundliche Gemeinde verliehen. Auf diesen Lorbeeren ruhten sich alle Beteiligten jedoch nicht aus. So weitete der Germeringer Sozialdienst sein Angebot aus und die Germeringer Insel entstand. Sie ist in ihrer Funktion als soziale Anlauf- und Koordinierungsstelle führend im Landkreis. Dort findet die soziale Erstberatung statt, um die Hilfesuchenden an die richtige Stelle oder Organisation weiter zu verweisen. Vermittelt werden Menschen mit unterschiedlicher Behinderung persönliche Hilfen, ambulante pflegerische oder hauswirtschaftliche Hilfen. Gleich mehr als ein Dutzend Selbsthilfegruppen finden unter dem Dach der Insel Platz und nutzen deren Räume zu den regelmäßigen Treffen.

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(Foto: Günther Reger)

Über einen speziellen Bodenbelag am Kleinen Stachus von Germering ertasten Sehbehinderte den Weg zum Fußgängerüberweg.

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(Foto: Günther Reger)

Barrierefreiheit auf Germeringer Art: die Hilfe an der Ampel für Sehbehinderte,...

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(Foto: Günther Reger)

... die Rampe vor der Sparkasse...

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(Foto: Günther Reger)

...und der Handlauf am Germeringer See.

Wo die Stadt im öffentlichen Raum zuständig ist, versucht sie Barrierefreiheit zu garantieren. "Bei allen Neubauten ist das selbstverständlich", sagt Stadtbaumeister Jürgen Thum, "weil das auch die Bauordnung vorschreibt." Beim Umbau der Germeringer Verkehrsinsel "Kleiner Stachus" habe die Stadt, so Thum, die Beratung der Bayerischen Architektenkammer in Anspruch genommen. Die Fahrstraßen wurden verengt und mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer geschaffen. Die Übergänge und Schwellen wurden für Rollstuhlfahrer passgenau gemacht. Die neue Rampe vor dem Eingang zur Sparkasse ermöglicht einen besseren Zugang in die Bank. "Da kommen Rollstuhlfahrer jetzt gut rein", sagt Bernd Dittrich, der im Germeringer Behindertenbeirat für Mobilität im öffentlichen Raum zuständig und selbst gehbehindert ist. Blinde und stark sehbehinderte Menschen können jetzt auf dem Areal des Kleinen Stachus Taktiles im Boden abtasten, um über die Straße zu kommen. Dazu wurden eigens Platten und Bänder im Boden verlegt, um von Ampel zu Ampel zu kommen. Auch können sich Blinde und Sehbehinderte mit ihren Stöcken an Bordsteinkanten entlang tasten. Verlängert werden sollen diese Erleichterungen für Blinde und Sehbehinderte bis zum S-Bahnhof.

Auch am Germeringer See gibt es schon seit vielen Jahren einen eigenen Zugang für Behinderte. Auf der anderen Seite des Sees auch einen Handlauf für Gehbehinderte, um leichter in den See zu kommen. "Schwieriger ist die Barrierefreiheit bei Bestandsbauten", sagt Bauamtsleiter Thum. Häufig fallen die Barrieren erst bei einer Generalsanierung der Bauten, zum Beispiel an den Germeringer Grund- und Mittelschulen oder den Kindergärten, die gut 40 Jahre alt sind. Auch die 23 Jahre alte Stadthalle ist ein Bestandsbau. "Ich habe da keine Einschränkung und komme überall hin", bestätigt Dittrich. Vor einigen Jahren gab es in der Stadthalle jedoch auch einen Unfall eines prominenten Rollstuhlfahrers. Stadtrat Herbert Sedlmeier (CSU), Behindertenbeauftragter der Stadt und des Landkreises, stürzte mit seinem Rollstuhl in einen Aufzug, der einige Zentimeter unterhalb des Stockwerkes hielt. Sedlmeier verletzte sich dabei schwer. Bisher blieb es bei diesem einen Unfall, der offenbar auf einen technischen Fehler zurückzuführen war. Nachgerüstet wird die Stadthalle in beiden großen Sälen für Hörbehinderte. Von November oder Dezember dieses Jahres an können Schwerhörige, die ein Hörgerät mit induktiver Technik benutzen, die Veranstaltungen ohne größere Nebengeräusche verfolgen. Die Stadthalle lässt sich den Einbau der dafür notwendigen Technik 20 000 Euro kosten.

Die befragten Gehbehinderten und Rollstuhlfahrer in Germering sehen im Großen und Ganzen die Lebensbedingungen für sie in ihrer Stadt ebenfalls positiv. Doch geben die Betroffenen auch gezielte Hinweise, wo sie noch Optimierungspotenzial erwarten. So gibt es Bürgersteige, die gerade für Rollstuhlfahrer zu schmal sind. "Schön wären auch einpaar Bänke in der Stadt", sagt eine ältere Frau, die mit einem Rollator unterwegs ist. Im Winter, wenn der Schneeflug die Straßen räumt, werden von diesem die Bürgersteige zugeschüttet und die für Rollstuhlfahrer wichtigen abgesenkten Bürgersteige sind nicht auffindbar und nicht passierbar. "Dann muss ich Umwege fahren", berichtet eine Rollstuhlfahrerin aus Neugermering. Auch würden Autofahrer häufig an Stellen mit abgesenkten Bürgersteigen parken. Da fehle es an Bewusstsein der Autofahrer. Ein Ärgernis ist nach wie vor die fehlende Busanbindung an die beiden S-Bahnhöfe am Wochenende. So sind auch Nichtbehinderte an Samstagen und Sonntagen eingeschränkt, aber die Behinderten trifft es ganz besonders in ihrer Mobilität. Erleichterung hat der City-Bus 858 gebracht, der auch am Samstag - allerdings nur bis 15.38 Uhr - die Germeringer Einkaufspassagen (GEP) anbindet und mit dem die Mitfahrer dann auch die S-Bahn-Station Germering erreichen können.

© SZ vom 16.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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