SZ-Serie: Älter werden, alt sein, Folge 12:Am Lebensende wie ein Kind

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Pflegende Angehörige erleben, wie die Demenz den Kranken nach und nach die Identität nimmt. Während sie sich um alte Menschen kümmern, erhalten sie selbst auch Zuwendung und Rat einer Fachstelle der Caritas

Von Christian Lamp, Fürstenfeldbruck

"Ich alleine nicht, du alleine nicht, aber wir beide schaffen das." Heike Adler (Namen auf Wunsch der Betroffenen von der Redaktion geändert) sagt das oft zu ihrem Mann, wenn er sich aufgrund seiner Demenzerkrankung als Belastung empfindet. Seine 83-jährige Frau pflegt ihn zu Hause. Damit ist sie nicht allein. Der Großteil der Demenzkranken wird im eigenen Heim von Angehörigen gepflegt - nicht nur aus Hingabe.

Der Landkreis verfügt momentan insgesamt über 1888 Pflegeheimplätze, davon sind lediglich 280 sogenannte beschützte Plätze, wie sie Demenzkranke in der Regel benötigen. Sonja Thiele, Referentin für Senioren und Demografie im Kreistag, rechnet gegenwärtig mit knapp über 3000 Demenzfällen im Landkreis. Elisabeth Bauer von der Fachstelle für pflegende Angehörige der Caritas kommt aufgrund neuerer Studien sogar auf eine Zahl von etwa 4100 lokalen Demenzkranken.

Dass die Familie der "größte ambulante Pflegedienst" sei, wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Prävention, Rehabilitation und Beratung 2010 feststellte, ist deshalb schlicht eine gesellschaftliche Notwendigkeit zu nennen. Der Pflegenotstand bleibt an den Angehörigen hängen.

Für die meisten Partner Demenzkranker ist es dabei überhaupt keine Frage, dass sie ihr komplettes Leben umstellen. Das gilt insbesondere für Frauen, die selbst die Pflege übernehmen. Oft führt dieses Pflichtgefühl gegenüber der Familie zusammen mit den mangelhaften Pflegeangeboten allerdings dazu, dass individuelle Freiheit und Selbstbestimmung im Alter nur noch leere Versprechen bleiben.

Die Pflege Demenzkranker ist ein 24-Stunden-Job. Im Laufe der Krankheit verlieren sie zunehmend ihre geistigen Fähigkeiten, nach Kurz- und Langzeitgedächtnis geht in der Regel auch die gesamte Identität der Erkrankten verloren. Am Anfang ist es die Vergesslichkeit, die auffällt und den Alltag erschwert. Verlegte Schlüssel, vergessene Wege oder vergessene Namen.

Nicola Berg berichtet, dass ihr Mann immer noch penibel die Geburtstage seiner Bekannten in den Kalender übertrage. Er rufe sie auch noch an und gratuliere, müsse dann aber stets fragen, woher er sie eigentlich kenne. Was nach einer lustigen Anekdote klingt, kann auf die Dauer bedrückend werden. Auch Maria Klar berichtet, dass die Vergesslichkeit ihres kranken Mannes sie am meisten belaste. Wenn sie ihm etwas fünf Minuten zuvor gesagt und er es schon wieder vergessen habe, dann müsse sie einfach manchmal losschreien.

Geduld haben und nicht drängen sei das Wichtigste, sagt Wolfang Zettl von der Caritas. Es sei wichtig, Demente nicht mit enttäuschten Erwartungen zu konfrontieren. Druck sei ganz schlecht. Klar ergänzt, dass sie deshalb mit ihrem Mann nie, wie oft empfohlen, Mensch-ärgere-dich-nicht spiele, sondern eigentlich nur Schach.

Elisabeth Bauer präzisiert, Dementen würden üblicherweise die kognitiven Fähigkeiten von Zwölfjährigen zugeordnet. Im Krankheitsverlauf nehmen sie immer weiter ab. Deshalb sei es für die Angehörigen so schwierig, mit der Krankheit umzugehen: der gewohnte Partner falle nicht nur körperlich aus, sondern verschwinde, obwohl die äußere Hülle bleibt.

Wenn das Vergessen überhand nimmt: Ein Mittel gegen Alzheimer gibt es bislang noch nicht. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Besonders bei schwereren Demenzfällen wird die - teils auch körperliche - Aggressivität zum Grundproblem. Die Kranken suchen, zur Ablenkung von der eigenen Schwäche, nach einem Feindbild. Das knüpft sich oft an den Partner, der sie vermeintlich im Stich lasse. So auch bei Annegret Dichtls Mann, der sich weigert, die Arztdiagnose anzunehmen. Auf ihre Angebote, über seine Krankheit zu reden, reagiert er abweisend bis aggressiv. Manchmal bekomme sie schon Angst, gesteht sie.

Dass Liebe in Hass umschlägt, kann auf beiden Seiten zutreffen. Kombiniert mit dem physischen und psychischen Stress einer Pflegesituation rund um die Uhr, für die Angehörige in der Regel nicht ausgebildet sind, führt das oft zu einer Zwangssituation. Seinen Angehörigen plötzlich nicht mehr als Lebenspartner zu haben, sondern ihn vielleicht auch noch wie ein hilfloses Kind füttern und säubern zu müssen, ist extrem schwierig.

Zugespitzt lässt sich das am Beispiel von Heiner Ehrlich nachvollziehen. Nachdem seine Frau im Sommer 2015 mit Alzheimer diagnostiziert wurde, wollten sie im Frühjahr 2016 auf ärztliche Empfehlung einige Wochen in einem Alzheimer-Therapiezentrum verbringen. Seine Frau habe gedacht, sie würden in den Urlaub fahren und einen emotionalen Schock bei der Ankunft erlitten, berichtet Ehrlich. Die Krankheit verschlimmerte sich schlagartig, sie habe nichts mehr gegessen, sei aggressiv und inkontinent geworden. Von da an habe "ein Kampf um die Sauberkeit" begonnen, so der um neutrale Wortwahl bemühte Ehemann. Das sei schließlich über seine Kräfte gegangen.

Vom Personal der Psychiatrie, in die seine Frau zur Ruhestellung eingewiesen war, wurde ihm das Pflegeheim nahegelegt. Eigentlich wollte er sie, erzählt Ehrlich den Tränen nahe, möglichst lange zu Hause pflegen. Aber er sei der Empfehlung schließlich nachgekommen. Erst vor Kurzem haben sie den Haushalt gewechselt und eine schmucke Dachgeschosswohnung bezogen. Ambulante Pflegedienste, die an sich auch schon teuer genug seien, habe seine Frau verweigert und nicht an sich herangelassen. Er selbst habe das allein nicht mehr stemmen können.

Ehrlich, der, wie er betont, glücklicherweise auch in der Rente finanziell gutgestellt sei, macht sich auch Monate nach dem Heimbezug seiner Frau Vorwürfe. Er geht noch einmal alle Möglichkeiten durch, aber in der neuen Wohnung wäre es nicht möglich gewesen, für die private Pflegekraft gäbe es kein Zimmer. "Wer denkt denn an so was", schüttelt er den Kopf.

Der Einzug in das Heim ist zwar, wie man am Beispiel der Ehrlichs sieht, einerseits eine Entlastung, da die Pflege an qualifiziertes Personal delegiert werden kann. Andererseits plagt er sich mit Schuldgefühlen. Er wirft sich vor, dass er seine Frau im Stich gelassen habe. Aber gerade für Alzheimerkranke gibt es theoretisch ab einem gewissen Zeitpunkt keine Alternative zu einer beschützten Station im Pflegeheim mehr. Selbst ambulante Pflege kann sie im Endstadium nicht ausreichend versorgen.

Sie brauchen die beschützte Pflege, also abgesicherte Räume, da sie oftmals noch körperlich verhältnismäßig fit, aber geistig völlig hilflos sind. Das bündelt sich in der sogenannten "Wegläufigkeit", in Versuchen, unbedingt "nach Hause" zu kommen - wie Elisabeth Bauer sagt der Wunsch, sich wieder orientieren zu können. Zu Hause sei das Bekannte, und mit dem Wegfall des Kurzzeitgedächtnisses ist es oftmals die frühe Kindheit, die noch übrig ist. Deshalb sind qualifizierte Pfleger und vielfältige Angebote so wichtig, um die Dementen, die altgewordenen Kindern gleichen, auszulasten und zu unterhalten.

Elisabeth Bauer kümmert sich in der Fachstelle der Caritas in Fürstenfeldbruck um die Sorgen und Nöte der pflegenden Angehörigen und leitet regelmäßig Gesprächskreise dazu. (Foto: Günther Reger)

Heike Adler, die mit ihrem Mann aus Siebenbürgen stammt, kämpft derweil noch zu Hause mit den von Bauer geschilderten Symptomen. Oft fordere ihr 85-jähriger Mann sie auf, nach Hause zu gehen, halluziniere er Schatten oder Soldaten an den Fenstern. Das habe sie aber gelernt, mit Humor zu nehmen. Sie versichere ihm dann, Einbrecher könnten vor den Fenstern nicht in der Luft schweben, und falls doch, würde sie die schon verscheuchen.

Teilweise frage er sie auch, wo denn seine Frau sei. Schon trauriger berichtet Adler, dass sie das schon zu Tränen rühre, sie ihm dann aber immer bemüht fröhlich sage: "Ich bin deine Wirtschafterin, Pflegerin, und nebenbei auch deine Frau." Dann erkenne er sie schon wieder. So weit fortgeschritten, dass der 85-jährige seine Kinder und Frau nicht wiedererkennt, ist die Krankheit noch nicht.

Als Stütze ihres kranken Mannes ist Heike Adler trotzdem ihrerseits auf Stützen angewiesen. In ein Heim geben will sie ihn nicht. Aber Adler kann auch auf die Unterstützung ihrer beiden Töchter und ihres Schwiegersohnes zählen, die ihre Einkäufe erledigen und die Wohnung beaufsichtigen, wenn sie selbst Termine hat. Ihre Tochter, die in München wohnt, habe ihre Stelle bereits auf 32 Stunden reduziert, die andere Tochter würde früher in Rente gehen, um mithelfen zu können. Ohne die Familie gehe es nicht.

Heiner Ehrlich dagegen hat nur eine geschiedene und berufstätige Tochter, die er nicht belasten möchte. In solchen Fällen bleibt vorerst nur das Geld. Der günstigste Pflegeheimplatz im Landkreis kostet, wie Elisabeth Bauer vorrechnet, 1850 Euro monatliche Eigenzulage - Heime, die sie empfehlen könne, dagegen über 2000 Euro. Jeder kennt die Bilder alter Menschen, auf Sofas aufgereiht, die vor sich hinstarren, oder die Berichte von Patienten, die auf ihren Zimmern eingesperrt werden. Das seien einfach Beispiele von unterfinanzierten und -qualifizierten Pflegeheimen, vertraut eine 30 Jahre alte Altenpflegerin der SZ an.

Je nach Rente müssen dazu oft - so weit vorhanden - Ersparnisse aufgebraucht werden. Sonst müssen die Kinder mithelfen. Nicht nur physisch und psychisch, auch finanziell ist die Demenzkrankheit ein echter Härtefall. Und wer schließlich kein Geld mehr übrig habe, empört sich Ehrlich, dem drohe Altersarmut und Sozialhilfe.

Familie oder Geld heißt es in den meisten Fällen, die Angehörigen kommen selten dazu, die Pflege nicht machen zu wollen. Gerade für die notgedrungen Verpflichteten sind unterstützende Angebote deshalb besonders wichtig. Ehrlich und Adler berichten beide, wie hilfreich Schulungen und Gruppengespräche für ihren Umgang mit der Krankheit gewesen wären.

Für Elisabeth Bauer ist das Wichtigste für einen möglichst belastungsfreien Alltag, sich nicht mehr an das Alte zu klammern. Es gehe darum, eine neue Rolle für sich und die Beziehung zu finden. Die 60-jährige Gerontologin spricht aus Erfahrung: die Demenz hat sie an ihrer eigenen Mutter miterlebt. Man müsse die Krankheit akzeptieren, meint sie. Demente seien "Spiegel der Emotionen", deshalb ginge es vor allem darum, ein Gefühl zu bestätigen. Über Emotionen blieben sie auch noch zugänglich, wenn die Kognition versagt habe und der Kranke seinen Partner scheinbar nicht mehr erkenne.

Zentral sei es, über die eigene Rolle zu reflektieren. Maria Klar berichtet, dass sie mittlerweile alle Termine auf den Vormittag verschoben habe, wo ihr Mann in ärztlicher Betreuung sei, um wenigstens etwas Zeit für sich zu haben. Was sie aber regelmäßig organisiere, seien Zugreisen mit ihrem Mann in das Umland, das ginge noch. "Toll" sei das, kommentiert Wolfgang Zettl, dass sie nicht nur sage, sondern lebe, dass "es auch positive Seiten gibt".

Annegret Dichtl dagegen klagt, gemeinsame Aktivitäten wären mittlerweile schwierig geworden. Und als Dauerpfleger könne man sich ja kaum noch mit Freunden treffen. Für Angehörige droht so die Gefahr sozialer Vereinsamung, wenn nicht durch Tages-, Kurzzeitpflege oder betreute Gruppenaktivitäten etwas Raum geschaffen werden kann. Die Gesprächsgruppe pflegender Angehöriger sei als sozialer Treff sehr hilfreich, meint die 80-jährige Dichtl, nicht nur, um Tipps und Schicksale auszutauschen.

Das ist die Demenzerkrankung für den pflegenden Partner in der Regel, wie sich herausstellt: nicht nur ein 24-Stunden-Job, sondern ein Schicksal. Bauer berichtet, dass pflegende Angehörige Demenzkranker selbst ein signifikant höheres Risiko hätten, an Demenz zu erkranken. Ihr ganzes Leben werde, wenn sie nicht Unterstützung in Anspruch nähmen, auf die Krankheit ausgerichtet.

Heike Adler hat die Ratschläge Bauers beherzigt. Zudem beschäftigt sich die lebhafte Dame mit der öffentlichen Diskussion über Demenz. Sie beklagt sich darüber, dass die meisten Artikel nur Angst machten. Demenz sei ja "nicht die Cholera". "Wir lachen auch viel", hält sie dem entgegen. Es käme eben darauf an, in die neue Rolle zu finden, sich nicht dagegen zu wehren.

Die Akzeptanz steht bekanntlich am Schluss der Trauerarbeit. Von der spricht auch Heiner Ehrlich. Man wisse nicht, "ist das jetzt Selbstmitleid oder Trauer", erklärt der beherrschte Herr seine Tränen. Das Schlimmste sei für ihn, den langsamen Tod seiner Frau mit anzusehen. Denn bei Demenz "stirbt der Mensch ja ganz langsam", wie er es ausdrückt. Seine Frau existiere einfach nicht mehr. Immerhin sei sofort das Heimzimmer ihr "Zuhause" gewesen. Was er gemacht hätte, wenn sie mit ihm zurück in die Wohnung gewollt hätte, will er sich nicht vorstellen.

Auch Ehrlich betont, sich jetzt neu "arrangieren" zu müssen. Jeden Tag besucht er seine Frau und bringt ihr Kuchen und Obst vorbei. Er hat vor, sich in diversen lokalen Vereinen zu engagieren. Und das Pflegeheim ermöglicht ihm, jetzt auch regelmäßig einige Tage auf seine Enkelkinder in München aufzupassen.

Die Fachstelle für pflegende Angehörige der Caritas in Fürstenfeldbruck berät und unterstützt rund um den Alltag mit einem kranken Angehörigen. Das Caritas-Zentrum (Hauptstraße 5, 82256 Fürstenfeldbruck) ist telefonisch unter den Nummern von Elke Brach 08141/32 07 -87 oder -36 (Elisabeth Bauer) erreichbar.

© SZ vom 21.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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