SZ-Serie: Älter werden - alt sein:Essen, was andere wegwerfen

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Eine steigende Zahl von Rentnern bezieht Grundsicherung. Wem das nicht reicht, der jobbt oder geht zum Containern

Von Peter Bierl, Fürstenfeldbruck

Caroline Heigl geht zum "Containern". Sie sammelt Brot, Eier, Käse, Milch, Joghurt, Obst und Gemüse, Hühner und Lachs aus den Mülltonnen von Supermärkten. Manchmal versuchen Geschäftsführer sie zu vertreiben, einmal rief jemand die Polizei, die auch kam, aber keine Anzeige aufnahm, weil das Zeug ja weggeworfen worden war. Und ihre beiden bevorzugten Standorte sind weder eingezäunt, noch steht da ein Verbotsschild.

Es empört sie, dass so viele Lebensmittel weggeworfen werden, weil das Haltbarkeitsdatum abläuft. In Containern zu wühlen ist für die 70-Jährige allerdings keine Protestaktion wie für manche Kids, sondern schiere Notwendigkeit. Heigl bekommt eine Rente von etwa 200 Euro, das Sozialamt zahlt deshalb eine Grundsicherung in Höhe von 800 Euro. Ihren wirklichen Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen, weil sie fürchtet, die Kreisbehörden könnten ihr diese Summe um einen Betrag für das Essen kürzen, das sie aus dem Müll zieht.

Fürstenfeldbruck zählt zu den reichsten Gegenden der Republik. Nach der Kaufkraft stand der Landkreis im Ranking der Marktforschungsfirma GfK 2015 auf dem siebten Platz. Vielen Senioren geht es gut, das sind die reichen Leute und solche, die einen Batzen geerbt haben oder eine schöne staatliche Pension bekommen. Aber es gibt auch Altersarmut, oft versteckt, weil sich Menschen schämen und keine Hilfe in Anspruch nehmen wollen. "Wir werde abgestempelt als Schmarotzer", sagt Heigl, "dabei kann es jeden treffen".

Etwa 790 Menschen bekommen im Landkreis die Grundsicherung, weil ihre Rente nicht zum Leben reicht. 58 Prozent der Empfänger sind Frauen. Sie bekommen 409 Euro, das ist der bundesweite Regelsatz, der Landkreis zahlt seit 1. Januar einen kleinen Zuschlag, macht 430 Euro plus Miete, vorausgesetzt, die Wohnung überschreitet nicht eine bestimmte Größe. Rente oder Nebenverdienste werden angerechnet. Dazu gibt es weitere 273 Rentner-Haushalte die Wohngeld bekommen. Die Tendenz ist steigend. Die Zahl dürfte sich zwischen 2005 und 2017 verdoppelt haben, schätzt Monika Melzer vom Sozialamt der Kreisbehörde. In Germering tragen Rentner Zeitungen aus oder sammeln Pfandflaschen. "Das gab es vor zehn Jahren in Großstädten, aber nicht bei uns", sagt Renate Koemm, von der Schuldnerberatung der Caritas in Germering. Viele würden bei der Gesundheit sparen. Zuzahlungen beim Arzt schlagen zu Buche, Salben für sieben oder acht Euro sind nicht drin.

Bei der Tafel in Fürstenfeldbruck, die Lebensmittel verteilt, lag der Anteil der Rentner unter den Klienten im vergangenen Jahr bei 60 Prozent, berichtet Lidija Bartels, einer der Leiterinnen. Die Einrichtung versorgt jede Woche etwa 400 Personen. Der Laden im Westen der Stadt ist wie ein normales Geschäft aufgemacht, um Hemmschwellen zu senken, die Mitarbeiter sprechen von Kunden: "Bei uns gibt es Essen, gute Worte, eine Umarmung, manchmal ein Taschentuch für die Tränen", erzählt Barthels. Heigl geht nicht mehr hin zur Tafel. "Dort werden es immer mehr Menschen, aber nicht mehr Lebensmittel", sagt sie. Manchmal hätten sich Leute sogar gegenseitig Sachen aus den Taschen geklaut.

Unter den Rentnern, die zur Tafel kommen, sind laut Barthels überwiegend Frauen, Witwen meist, die Kinder groß gezogen und nebenher manchmal ein bisschen Geld verdient haben. Oft stehen Frauen auch nach Trennung und Scheidung fast mittellos da. Manche haben in der Firma des Mannes mitgearbeitet, der keine Beiträge für sie einzahlte. Viele seien chronisch krank, viele genierten sich ihrer Armut. Barthels geht deshalb von einer hohen Dunkelziffer aus.

Heigls Fall ist typisch: Sie hat als Sekretärin gearbeitet, in einer Bank und auf dem Fliegerhorst, gutes Geld verdient und in die Rentenkasse eingezahlt, aber nur fünf Jahre lang. Dann heiratete sie, kümmerte sich um zwei Kinder, Haus und Garten, ihr Mann war selbständig, sie jobbte nebenher. Das Paar lebte sich auseinander, nach 36 Jahren kam die Scheidung. Heigl ging wieder arbeiten, dann brach sie sich einen Arm. Ein Amtsarzt schrieb sie erwerbsunfähig, "um mich aus der Arbeitslosenstatistik zu kriegen", wie sie sagt. Nun stand Heigl mit ihrer Minirente da. Die 800 Euro Sozialhilfe musste sie vor Gericht einklagen, weil sie mit ihrem Lebensgefährten zusammen lebt. Für das Sozialamt handelt es sich um eine Bedarfsgemeinschaft, der Mann sollte zahlen, war aber selber insolvent.

Altersarmut droht nicht nur Frauen, die sich um die Familie gekümmert haben, sondern allen, die niedrige Löhne bekommen oder zeitweise erwerbslos sind. Es werden mehr, weil es viele prekäre und schlecht bezahlte Jobs gibt, während die diversen Rentenreformen, insbesondere der Kurswechsel der rot-grünen Regierung 2001, dafür gesorgt haben, dass das Rentenniveau sinkt. Die Grundidee der gesetzlichen Rentenversicherung von 1957, den Lebensstandard im Alter zu sichern, wurde längst über Bord geworfen. Eine ausreichende private Altersvorsorge können Menschen mit niedrigen und sogar mittleren Einkommen nicht aufbauen. 2012 warnte der bayerische Gewerkschaftsbund, dass die Durchschnittsrente im Freistaat bis 2030 um 14 Prozent auf knapp 604 Euro sinken werde, das ist unter der Armutsgrenze. Nach dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ist die Quote der verarmten Rentner im Zehn-Jahresvergleich von 10,7 auf fast 16 Prozent gestiegen. "Wir steuern rentenpolitisch auf eine Katastrophe zu, die von den Parteien aber kleingeredet wird", sagt Volker Hechtel, Kreisgeschäftsführer des Sozialverbandes VdK, der im Landkreis etwa 8100 Mitglieder hat.

Betroffen sind auch Menschen in reicheren Landkreise, wie der Armutsbericht der Caritas für den Landkreis Dachau festgestellt hat. Es trifft Angehörige der Mittelschicht ohne Wohneigentum oder eine Zusatzversorgung. Wobei manchmal "auf hohem Niveau geklagt" werde, wie Schuldenberaterin Koemm feststellt. Bei Angehörigen aus der Mittelschicht gehe es oft um den "Abschied von einem Lebensstil", etwa wenn beide Ehepartner gearbeitet und gut verdient haben und einer aufhört.

Im Landkreis machen den Rentnern vor allem die hohen Lebenshaltungskosten zu schaffen. Das ist typisch für Ballungsräume wie München oder Augsburg. Sozialer Wohnungsbau findet nicht statt, der Freistaat habe gar noch Wohnungen verkauft, siehe GBW, rügt der VdK-Geschäftsführer. "Die Renten sinken, aber die Ausgaben steigen, viele können schon die Fixkosten nicht decken. Es gibt viel versteckte Armut", lautet Hechtels Fazit. Er kritisiert auch die Kreisbehörde. "Das ist ein rigides und sparsames Sozialamt, München zahlt freiwillig mehr", sagt der Sozialjurist.

Heigl ist nicht die einzige Rentnerin im Landkreis, die ihren Lebensunterhalt bestreitet, in dem sie weggeworfene Lebensmittel aus den Mülltonnen der großen Einkaufszentren holt. "Es gibt einige solche Leute, wir kennen uns und halten zusammen." Oft gibt sie den anderen von ihrem Fang etwa ab. "Bei mir gibt es am Ende des Monats jedenfalls nicht bloß Nudeln mit Ketchup", sagt sie.

© SZ vom 06.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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