SZ-Serie: Älter werden - Alt sein:Aus Drei mach Fünf

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Das Pflegestärkungsgesetz sollte deutliche Verbesserungen bringen. Doch durch die neuen Kriterien bei der Bewertung von Pflegefällen dürften nun weniger Menschen die Voraussetzungen erfüllen, einen Heimplatz zu bekommen

Von Julia Bergmann, Fürstenfeldbruck

Was das Pflegestärkungsgesetz II versprach, klang für viele zunächst einmal verheißungsvoll: Mehr Geld für die Pflege, eine Änderung des Pflegebegriffs und damit verbunden auch die schon lange geforderte bessere Berücksichtigung von psychischen und demenziellen Krankheiten bei der Einstufung der Pflegebedürftigen. Tatsächlich, sagt Felix Hechtel, der Kreisgeschäftsführer des VdK in Fürstenfeldbruck, habe sich das im ambulanten Bereich zum Teil erfüllt. Anders sieht die Situation in den Pflegeheimen aus. Sie sind der Verlierer der Reform.

Im evangelischen Pflegezentrum Eichenau hat Marie Schmidt gerade ihr Kreuzworträtsel gelöst und macht sich gemächlich auf den Weg zum Mittagessen. Seit elf Jahren lebt die Seniorin in dem Pflegeheim. Von den gesetzlichen Änderungen, die am 1. Januar in Kraft getreten sind, hat sie gehört, aber hat sie etwas bemerkt? "Geändert hat sich für mich nichts. Ich bin sehr zufrieden", sagt sie. Für die Bewohner sind die Neuerungen offenbar nicht spürbar. Für Dirk Spohd, den Leiter des Pflegeheims, allerdings schon.

Die Einschnitte beginnen, wenn man es genau nimmt, bereits bei der Umwandlung der Pflegestufen in Pflegegrade und das, obwohl die Umwandlung - eigentlich - gut funktioniert habe, wie Hechtel betont. "Wer vor dem 1. Januar in Pflegestufe eins war, ist nach der Umstellung mindestens in den Pflegegrad zwei gerutscht, teilweise haben Pflegebedürftige sogar einen Doppelsprung in Pflegestufe drei geschafft", erklärt auch Spohd.

Gut für die Heimbewohner, denn laut Gesetz hätten ihnen, je höher die Stufe, auch mehr Leistungen aus dem System zugestanden. Schlecht für die Heime, denn: "In dem System ist pro Pflegeheim exakt das gleiche Geld geblieben", sagt Spohd. Die Pflegeleistungen bleiben also auch nach der Reform für die Bewohner gleich. "Vielleicht 75 Prozent der Bewohner sind höher gestuft worden, wir arbeiten aber mit demselben Geld und Personal", sagt Spohd.

Die Umstellung sei sowohl kosten- als auch personalneutral vor sich gegangen, erklärt der Leiter des Heims. Bereits 2016 habe es einen Stichtag gegeben, an dem der Pflegebedarf aller Heimbewohner erfasst wurde. Daraus wurde abgeleitet, wie viel Personal benötigt wird. Seitdem hat sich zwar geändert, wer in dem Heim lebt, und welche Pflegegrade die Bewohner haben, nicht aber das Personal. "Die echten Probleme werden nicht gelöst. Die Gewinnung von Fachkräften wird kaum noch gefördert", kritisiert Spohd.

So viel Zeit muss in der Altenpflege schon noch sein: Einen kleinen Tipp fürs Kreuzworträtsel gibt der Leiter des Alten- und Pflegeheims in Eichenau, Dirk Spohd, der Bewohnerin Marie Schmidt. (Foto: Günther Reger)

Noch ein wesentlicher Punkt habe sich seit der Reform verändert. Die Bewertungskriterien für die Einordnung in Pflegegrade. Und das ist einer der Punkte, der mit am häufigsten von Experten kritisiert wird. Bei einem Vortrag im Juli im Senivita-Haus Sankt Magdalena in Maisach hatte etwa Referent Johannes Bischof von der Gemeinnützigen Gesellschaft für soziale Dienste Nürnberg in seinem Vortrag darauf hingewiesen. "Viele erhalten mehr Leistungen, niemand wird schlechter gestellt", so hieß es laut Bischof von Seiten des Gesetzgebers. "Aber was passiert mit denen, die dieses Jahr neu pflegebedürftig sind? Sind auch die gleichgestellt?"

Bischof will bei der Veranstaltung wissen, wer bereits im vergangenen Jahr eine Pflegestufe beantragt hat. Eine Frau meldet sich, und es wirkt, als wolle der Referent sie beglückwünschen. Denn "diejenigen, die im vergangenen Jahr einen Antrag gestellt haben, sind in der Regel in einen höheren Grad übergeleitet worden" und dürften damit besser gestellt sein als Menschen, die neu in eine der jetzt geltenden fünf Pflegegrade eingeordnet werden. "Heute ist es schwieriger, in einen der höheren Pflegegrade zu kommen" - der neuen Bewertungskriterien sei Dank.

"Bisher sind bei der Einstufung die Minutenwerte für Pflegehandlungen erfasst worden", erklärt Spohd dazu. Jetzt wird bewertet, wie selbständig ein Mensch seinen Alltag bewältigen kann, und auch kognitive Fähigkeiten spielen dabei eine Rolle. "Die Bewertung ist nur für den Fachmann nachvollziehbar", kritisiert Dirk Spohd das System. Zu schwammig seien die Kriterien, zu unterschiedlich auslegbar. Das findet auch Felix Hechtel. In der VdK-Kreisgeschäftsstelle öffnet er den Fragebogen, den auch der Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Bayern (MDK) ausfüllen muss. Untergliedert ist er in sechs Module, sie heißen etwa "Mobilität", "Kognitive und kommunikative Fähigkeiten" oder "Selbstversorgung". Zu jedem der Module gibt es Fragen zu beantworten. Im Modul "Mobilität" etwa wird danach gefragt, ob der Pflegebedürftige in der Lage ist, Treppen zu steigen, eine stabile Sitzposition zu halten oder ob er sich innerhalb des Wohnbereichs selbständig fortbewegen kann. Der Gutachter vergibt als Antwort Punktwerte von null bis drei, und trifft damit eine Aussage darüber, ob der Pflegebedürftige eine Tätigkeit, selbständig, überwiegend selbständig, überwiegend unselbstständig oder unselbstständig ausüben kann. Je höher die Punktzahl, desto höher der Pflegegrad.

Die Bewertungskriterien führen zu Problemen, finden sowohl Spohd als auch Hechtel. Der VdK-Geschäftsstellenleiter verdeutlicht es mit folgendem Beispiel: "Wenn sich jemand zwar selbständig waschen kann, dafür aber zwei Stunden braucht und danach so erledigt ist, dass er sich zum Mittagsschlaf hinlegen muss, stellt sich die Frage, wie man ihn bewertet." Und Spohds Frage lautet: "Gilt jemand, der noch robben oder krabbeln kann, noch als mobil und ist selbständig?" Es gebe viele Szenarien, die die neuen Bewertungskriterien in Frage stellen und die im schlimmsten Fall von Gutachter zu Gutachter unterschiedlich ausgelegt werden könnten. "Der Demenzkranke etwa, der an einem Tag unter Anleitung die Zähne putzen kann, sich am nächsten Tag aber nicht mehr daran erinnert, wie es geht", fällt Spohd dazu ein. Erlebt habe er schon vieles. "Teilweise sind die Bewertungen für uns nicht mehr nachvollziehbar", sagt er.

Fest steht, dass die Reform die Pflege grundsätzlich verunsichert habe, sagt Hechtel. Das merke er nicht zuletzt an den stark gestiegenen Zahlen von Beratungsgesprächen, den neu gestellten Anträgen und den Widersprüchen. Von Januar bis Juli 2016 hat der VdK 141 Beratungsgespräche zum Thema Pflegeversicherung geführt. Nach der Umstellung von Januar bis Juli 2017 waren es 262. Die Zahl der Anträge sei von 23 auf 56 gestiegen, die Widersprüche von 19 auf 35. Generell würde Hechtel nicht so weit gehen, die Umstellung als komplett schlecht zu bezeichnen. "Es gibt Gewinner und Verlierer", sagt Hechtel, "es gibt Vor- und Nachteile."

Der vorstationäre Bereich etwa wurde gestärkt. Viele, die sich für ambulante Pflege entscheiden, bekommen nach der Umstellung mehr Geld. Vom Gesetzgeber war das gewollt, es sollte damit dem Wunsch vieler Senioren Rechnung getragen werden, so lange wie möglich in ihrem gewohnten Umfeld bleiben zu können. Viele der Nachteile treffen nun also die Pflegedienste und Pflegeheime. Sie haben nach der Umstellung weder mehr Geld noch mehr Personal zur Verfügung, sollen aber theoretisch mehr leisten. Aber die Nachteile treffen auch einzelne Patienten. "Mit Pflegegrad eins kann ich überhaupt nicht mehr ins Heim", sagt Spohd. Für Menschen mit niedrigeren Pflegegraden werde die Heimunterbringung teurer als zuvor, für Pflegegrade zwei und drei sei sie deswegen kaum attraktiv.

Ein Nachteil sei diese Entwicklung vor allem für Pflegebedürftige, deren Kinder weit entfernt leben. Denn wer geringen Pflegebedarf hat und keine regelmäßige familiäre Unterstützung bekommt, kann sich nun nicht mehr so leicht für einen Umzug in ein Pflegeheim entscheiden. Er bleibt dann zwar zwangsläufig in seinem gewohnten Umfeld, aber häufig allein.

Für Marie Schmidt, die Frau, die schon seit über einem Jahrzehnt im Eichenauer Pflegezentrum lebt, eine schlimme Vorstellung. "Die Sicherheit, die man im Heim hat, die ist äußerst wichtig", sagt sie. "Alleine leben - da hast du Angst, Angst, Angst." Neben ihr am Mittagstisch sitzt Wolfgang Ebert. Er ist erst seit einigen Wochen von Olching nach Eichenau in das Zentrum gezogen. "Irgendwann ist es zu Hause nicht mehr gegangen", sagt er. Der Umzug ins Heim sei für ihn das Beste gewesen. "Meine beiden Töchter leben in der Schweiz, dadurch bin ich oft allein, aber es macht mir nichts aus", sagt er. Da schaltet sich seine Sitznachbarin ein: "Sie sind doch nicht alleine, Sie sind doch bei uns." Und Wolfgang Ebert muss lächeln.

© SZ vom 01.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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