Fürstenfeldbruck:Das Trauma bleibt

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Nach dem Tod des Vaters und dem mysteriösen Verschwinden des Bruders in Afghanistan bringen Schleuser eine Witwe und ihren Sohn nach Bayern. Auf der Flucht entführen Menschenhändler ihre zwei Töchter. Im Landkreis findet die kleine Familie wieder Lebensmut

Von Gerhard Eisenkolb, Fürstenfeldbruck

Karim R. ist erst 16 Jahre alt. Sein Leben besteht aus zwei Hälften. Einer von Urängsten und traumatischen Erlebnissen geprägten, die schon vor dem gewaltsamen Tod des Vaters beginnt. Als der Vater stirbt, ist Karim zwölf Jahre alt. Das spätere mysteriöse Verschwinden des älteren Bruders steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Tod des Vaters. Als die Familie flieht, werden auch noch die zwei jüngeren Schwestern entführt. Von Schleusern, die noch ein anderes Geschäft betreiben: Menschenhandel. Letzteres geschieht in einem unbekannten Land, von dem der damals 14 Jahre alte Bub nichts weiß, nicht einmal den Namen. Dafür erinnert er sich daran, dass seine Mutter danach nur noch weinte und er sich verzweifelt an die Mutter klammerte, das Letzte was ihm blieb.

"Ich habe erst gespürt, seit ich hier bin, dass ich lebe", erzählt der Schüler, dankbar und den Tränen nahe, in fast perfektem Deutsch. "Ich habe alles hier gelernt."

Das Hier ist der Landkreis Fürstenfeldbruck, in dem Karim seit mehr als einem Jahr mit seiner Mutter in einer Unterkunft wohnt. Hier fand er eine neue Perspektive - und, was noch wichtiger ist, Hoffnung, Lebensmut und erstmals Selbstvertrauen. Den Quali hat er schon geschafft, obwohl er in Afghanistan nur etwa vier Jahre lang die Schule besuchte. Nun paukt er für den Realschulabschluss, verdient sich mit einem Schülerjob einige Euro dazu. Von dem Geld werden ihm fast Dreiviertel wieder abgezogen, aber er möchte sich und anderen beweisen, dass er selbst etwas zu seinem Lebensunterhalt beitragen kann. Abends geben ihm Asylhelfer Nachhilfeunterricht, sonst käme er in der Ganztagsschule nicht mit. Und er hat bereits ein neues Ziel: Nach dem Realschulabschluss möchte er auf die Fachoberschule.

Im dem kargen Landstrich bei Kundus - das Bild zeigt eine andere Frau mit Kindern - gab es für die Witwe und ihre Kinder keine Zukunft. (Foto: Johannes Eisele/afp)

Das Dort ist sein Heimatdorf Khanabad im Kundus. Der Bereich, in dem deutsche Soldaten stationiert waren und in dem Karim als Kind ein Familiendrama durchlitt, über das es ungern redet. Widerspricht es doch seiner Kultur, selbst engen Freuden solche Erlebnisse zu erzählen.

In jenem inzwischen zwar weit entfernten, aber seine Psyche noch immer aufwühlenden Khanabad wird der gnadenlose Bürgerkrieg der Taliban auch in der eigenen Familie ausgetragen. Auf der einen Seite stehen die gegen ihren Willen zwangsverheiratete Mutter, deren Mann und deren vier Kinder. Auf der anderen Seite steht der Familienclan des Vaters mit dessen Schwestern. Diese Schwestern - "sie waren einfach schrecklich" - wollen, dass der ältestes Sohn ihres Bruders für die Taliban kämpft und nicht mehr zur Schule geht. Dessen zwei Schwestern sollen im Alter von elf und 13 Jahren Zwangsehen eingehen. Statt wie ihr Bruder auf Feldern Obst und Gemüse anzubauen, setzen die Schwestern auf den einträglicheren Drogenhandel.

Die Weigerung der Mutter, sich zu beugen, hat Folgen. Nach dem Tod des Ehemannes schmieden die Witwe und deren ältester Sohn, der mit 20 Jahren als Familienoberhaupt die Verantwortung trägt, Fluchtpläne. Das Haus wird verkauft und alles zu Geld gemacht, um die Schleuser für die Flucht nach Deutschland zu bezahlen. Das bekommen wohl auch die Taliban mit, worauf Karim das Verschwinden seines Bruders zurückführt. Karim hofft, dass sein Bruder noch lebt und "nur" zwangsrekrutiert wurde. Was wirklich geschah, weiß er nicht. Nachprüfen lässt sich das alles nicht, aber die Geschichte wirkt glaubhaft, das beteuert auch die Asylhelferin, die den Afghanen und dessen Mutter seit deren Ankunft im Landkreis Fürstenfeldbruck ehrenamtlich betreut.

Die Flucht nach Deutschland dauert mehr als drei Wochen. Zuerst geht es durch Usbekistan und Kasachstan zu Fuß, mit dem Schiff und Personenautos auf Pisten und schlechten Straßen nach Russland. Gelegentlich können sie für einige Stunden schlafen. Die Flüchtlinge wissen nie, wo sie sind. Die Schleuser wollen, dass ihre Route geheim bleibt. Große Siedlungen und Städte werden umfahren, Grenzen auf Schleichwegen passiert. Oft müssen sich bis zu zehn Menschen in ein Personenauto zwängen, die Kinder sitzen auf dem Boden. Unter dem Vorwand, die Gruppe müsse wegen der Angst vor Polizeikontrollen in einem dichter besiedelten Gebiet auf mehrere Autos verteilt werden, trennen die Schleuser die beiden Mädchen von ihrer Mutter.

Karim gibt sich, wie es für Jugendliche seines Alters nun mal üblich ist: lässig. Er trägt weiße Turnschuhe und etwas zu tief unter der Hüfte hängende Jeans. Er spielt in einem Fußballverein und macht in der Freizeit gelegentlich bei Aktivitäten der evangelischen Jugend mit. Seine Freunde sollen nicht wissen, was er durchgemacht hat. Erzählt er von seiner Kindheit in Afghanistan, wirkt er verunsichert. Er gerät ins Stocken, sucht den richtigen Ausdruck und bricht immer wieder mitten im Satz ab, weil er nicht weiter kann. In solchen Momenten ist ihm anzumerken, wie sehr ihn das Erlebte belastet. "Es war echt schwierig, jetzt ist es vorbei", beteuert er dann immer. Und immer wieder fragt er sich: "Warum ist mir das passiert? Ich kann doch nichts dafür." Seine Mutter leidet noch mehr unter der Vergangenheit. Sie macht eine Traumatherapie. Mit Erfolg, sie habe begonnen, sich aus der Zurückgezogenheit zu lösen, beteuert die Betreuerin.

Spricht Karim von seinen Lieblingsfächern Englisch und Mathe, leuchten seine dunklen Augen begeistert und alles Belastende ist plötzlich weit weg. Und doch nicht ganz. Angesprochen auf die Zukunft, ist Afghanistan wieder ganz nah. Karim hat einen Wunsch: Hat er einen Beruf und verdient Geld, möchte er zurück in die Heimat. Dort wartet eine Aufgabe auf ihn: Er muss seinen Bruder und seine verschwundenen Schwestern suchen. Der 16-Jährige ist überzeugt, dass sie noch leben und er sie finden wird. Geld benötigt Karim vor allem für die Ausbildung. Dinge wie Taschenrechner, Hefte oder Bücher sind für ihn ein großer Luxus, ebenso wie die Teilnahme an der Klassenfahrt im nächsten Jahr. Zudem brauchen er und seine Mutter demnächst eine Wohnung, da sie nach der Anerkennung als Asylbewerber die Gemeinschaftsunterkunft verlassen müssen. Den Hausstand müssen sie sich erst noch beschaffen. Hierbei möchte der Adventskalender der kleinen Familie helfen.

© SZ vom 06.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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