Bürgerentscheide:Demokratie von unten

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Seit zwanzig Jahren machen Bürgerentscheide in den Kommunen die politische Mitbestimmung der Einwohner möglich. Im Landkreis hat es bisher 33 solcher Abstimmungen gegeben. 2016 waren die Bürger besonders aktiv

Von Heike A. Batzer, Fürstenfeldbruck

Der Politik wird gerne der Vorwurf gemacht, das tatsächliche Leben zu wenig zu berücksichtigen und die Interessen der Wähler zu übergehen. Wie also können sich die Bürger besser Gehör verschaffen? Volksentscheide könnten eine Möglichkeit sein, über ihre Einführung wird diskutiert. Die Kommunalpolitik ist mit der direkten Bürgerbeteiligung schon weiter. Seit 20 Jahren hält sie das Instrument des Bürgerentscheids bereit, mit dem Bürgerinnen und Bürger über lokale Fragen selbst abstimmen und dabei auch Entscheidungen der politischen Mandatsträger revidieren können. 33 Bürgerentscheide hat es seit 1996 im Landkreis Fürstenfeldbruck gegeben, mit dreien gehört 2016 zu jenen Jahren, in denen die Bürger politisch besonders aktiv waren. Die meisten Bürgerentscheide, nämlich vier, gab es 2013, in den Jahren 2004 bis 2006 fand hingegen kein einziger Bürgerentscheid im Landkreis statt.

Die ersten, die im Landkreis abstimmen durften, waren die Schöngeisinger. Sie befanden am 25. Februar 1996 darüber, in welcher Form ihr Ort an die Bundesstraße 471 angebunden werden sollte. Dabei waren die Bewohner von Hattenhofen eigentlich diejenigen gewesen, die sich das neue Instrumentarium als erste zunutze machen wollten. Auch sie sammelten schon 1995 Unterschriften, stimmten aber erst am 31. März 1996 in einem Bürgerentscheid über den Standort des geplanten neuen Feuerwehrhauses ab. Damit war den Schöngeisingern der Platz in der Geschichte sicher.

Die meisten Bürgerentscheide, nämlich sieben, fanden seither in der Großen Kreisstadt Fürstenfeldbruck statt. Das sind statistisch gesehen alle 2,8 Jahre einer. Damit liegt Fürstenfeldbruck über dem Schnitt von 4,1 Jahren, den der Landesverband des Vereins "Mehr Demokratie" für Städte in der Größenordnung Fürstenfeldbrucks ermittelt hat. Werte von Landsberg, Oberammergau und Coburg mit 15, 14 und zwölf Abstimmungen erreicht Fürstenfeldbruck aber nicht. Über alle bayerischen Gemeinden und Städte hinweg finden solche Verfahren direkter Bürgerbeteiligung im Durchschnitt nur alle 16 Jahre statt. Die Autoren sehen den Grund in der "anderen politischen Kultur" kleiner Gemeinden. Dort würden direkte Kontakte und intensivere Zusammenarbeit dazu beitragen, dass frühzeitig und gemeinsam nach Lösungen gesucht werde.

SZ-Grafik; Quelle: Landratsamt Fürstenfeldbruck (Foto: FFB1)

Einige Gemeinden belegen jedoch das Gegenteil. Besonders im 3500-Einwohner-Ort Grafrath, der mit fünf Bürgerentscheiden gleich hinter Fürstenfeldbruck rangiert, wird besonders gern und besonders heftig gestritten. Über die Zukunft des Klosterwirts durften die Bürger dort gleich zweimal abstimmen, jedes Konzept verlor. Es kam zu einem Ende, das niemand wollte: Die Gastwirtschaft wurde abgerissen. Auch in Adelshofen stritt man in diesem Jahr über die Errichtung einer Flüchtlingsunterkunft im Klostergarten mitten im Ort. Das Thema schlug derart hohe Wellen, dass sich Bürger zerstritten und Bürgermeister Michael Raith nach dem Ausgang vor allem die Hoffnung hegte, dass nun im Dorf wieder Ruhe einkehren möge. Auch in Grafrath litt das Ortsklima beim bislang letzten Bürgerentscheid empfindlich. Bei der Frage über die geplante und dann abgelehnte Erweiterung des Gewerbegebiets in ein Landschaftsschutzgebiet hinein hatte es im Vorfeld heftige Auseinandersetzungen gegeben.

Verkehrsprojekte machen etwa ein Fünftel aller Bürgerentscheide in Bayern aus. Im Landkreis Fürstenfeldbruck kann man sogar zehn von 33 Bürgerentscheiden dem Bereich Verkehr zuordnen. Vier Abstimmungen befassten sich mit der Ansiedlung von Supermärkten, drei mit Gewerbegebieten. In anderen Abstimmungen ging es um einen Golfplatz, einen Schweinestall, einen Solarpark. Die beiden Gemeinden mit den meisten Bürgerentscheiden nach Fürstenfeldbruck und Grafrath sind mit jeweils drei Schöngeising und Landsberied. In acht der 23 Kreiskommunen - das ist immerhin fast ein Drittel - wurden die Bewohner in den vergangenen 20 Jahren kein einziges Mal zu einem Bürgerentscheid gebeten.

Bürgerentscheide sind in Bayern seit 1995 zugelassen. Der einige Jahre zuvor gegründete Verein "Mehr Demokratie in Bayern" hatte einen Volksentscheid initiiert, bei dem sich eine Mehrheit für mehr Bürgerbeteiligung aussprach. Bürgerentscheide können "das Gesicht der örtlichen Demokratie maßgeblich bestimmen", erklärt der Rechtswissenschaftler Franz-Ludwig Knemeyer. Auch die Studie "Partizipation im Wandel - unsere Demokratie zwischen Wählen, Mitmachen und Entscheiden" der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2014 besagt, dass die Zeiten vorbei seien, "in denen die Bürger sich in ihren demokratischen Teilhabewünschen mit ihrem Kreuz auf dem Wahlzettel oder unverbindlichem Mitreden im öffentlichen Diskurs begnügen".

SZ-Grafik; Quelle: Landratsamt Fürstenfeldbruck (Foto: FFB1)

Laut dem aktuellen Bürgerbegehrensbericht des Vereins "Mehr Demokratie" waren von den Bürgerentscheiden, die durch ein Bürgerbegehren ins Leben gerufen wurden, 49 Prozent im Sinne der Initiatoren erfolgreich. Das heißt im Umkehrschluss: In der Hälfte der Fälle lehnen die Bürger die Anliegen der Initiativen ab. "Von oben" angestoßene Ratsbegehren hatten eine Erfolgsquote von 58 Prozent. Etwa zwölf Prozent der Bürgerentscheide scheitern am notwendigen Zustimmungsquorum, darunter im Landkreis die Frage über die Gestaltung des Kleinen Stachus in Germering (2000) und beide Abstimmungsfragen zum neuen Standort des Fürstenfeldbrucker Graf-Rasso-Gymnasiums im Jahr 2003.

Auch bei dieser Frage hatte der Fürstenfeldbrucker Stadtrat dem Bürgerbegehren ein eigenes Ratsbegehren entgegen gestellt. Neun Mal war das bei Bürgerentscheiden in den vergangenen 20 Jahren im Landkreis der Fall, zuletzt auch bei der Frage der Gewerbegebietserweiterung in Grafrath. Die Bürger müssen dann bei zwei Fragen, die oft nur eine gegenteilige Fragestellung enthalten, ihr Kreuz machen. In zwei Fällen stand nur jeweils ein Ratsbegehren zur Abstimmung. "Vom Ergebnis her" sei ein zusätzliches Ratsbegehren "oft nicht unbedingt nötig", weiß auch Robert Drexl von der Kommunalaufsicht im Landratsamt Fürstenfeldbruck. Häufig aber diene dieses Ratsbegehren dazu, die Sache noch einmal "plakativ und werbewirksam darzustellen".

Die Wahlbeteiligung bei Bürgerbegehren ist unterschiedlich. In der Regel sinkt die Beteiligung, je größer die Kommune ist. Um die 50 Prozent sei "nicht unüblich", sagt Drexl. Es komme dabei auch darauf an, wie viele Einzelinteressen betroffen seien. In Sachen Gewerbegebiet Grafrath lag die Wahlbeteiligung am Tag des Fußball-EM-Endspiels Mitte Juli bei durchschnittlichen 54 Prozent, in der Nachbarkommune Kottgeisering stimmten dann nur eine Woche später 74 Prozent darüber ab, ob sie einen Discounter im Landschaftsschutzgebiet haben wollen oder nicht.

SZ-Grafik; Quelle: Landratsamt Fürstenfeldbruck (Foto: FFB1)

Bisweilen gelingt es sogar, strittige Angelegenheiten vorab einer Lösung zuzuführen, ohne dass es zu einer Abstimmung mittels Bürgerentscheid kommen muss. In der Gemeinde Alling war das in diesem Jahr so. Dort beschloss der Gemeinderat genau das, was das Bürgerbegehren "Unser Wasser muss beim Dorf bleiben - Ja zur Sicherung unserer eigenen Wasserversorgung, Nein zur Fremdbestimmung über unser Trinkwasser" gefordert hatte. Ein solcher "Abhilfebeschluss", erklärt Kommunalfachmann Drexl, sei ebenso für ein Jahr bindend wie das Ergebnis eines Bürgerentscheids.

Bisweilen fällt es Gemeinden aber auch schwer, den Bürgerwillen zu akzeptieren. So trug Fürstenfeldbrucks ehemaliger Oberbürgermeister Sepp Kellerer (CSU) schwer daran, dass die Brucker mehrheitlich verhinderten, dass die Bundesstraße 2 aus der Innenstadt verlegt werden konnte. Man müsse nun mit dem hohen Verkehrsaufkommen dort leben, sagte er in einer Bürgerversammlung im Jahr 2009, dies sei "der Todesstoß für eine intakte Innenstadt". Dass das Zusammenspiel zwischen Bürgern und gewählten Vertretern nicht immer reibungslos verläuft, ist auch eine Erfahrung, die Susanne Socher, Vorstandssprecherin von "Mehr Demokratie Bayern", im Februar im Bayerischen Landtag beim Festakt zu 20 Jahre Bürgerentscheid wiedergab: "Gerade die gewählten Vertreterinnen und Vertreter vergessen mancherorts, dass der Souverän das Volk ist. Sie lassen sich gerne wählen, wollen aber anschließend keine Macht mehr abgeben. Darin bedarf es sicher noch einiger Übung." Doch die direkte Demokratie an sich habe positive Auswirkungen, hatte am selben Abend noch der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Bruno S. Frey festgestellt. Nicht das Ergebnis sei dafür ausschlaggebend, sondern "allein die Möglichkeit am politischen Geschehen teilzunehmen, verstärkt die Lebenszufriedenheit der Menschen".

© SZ vom 29.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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