Eine David-gegen-Goliath-Geschichte:Mit der Kraft des Einhorns

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Norbert Bürger (re.) und Julia Schröter suchen im Gespräch mit OB Tobias Eschenbacher nach einer Lösung für das "Abseits". (Foto: Marco Einfeldt)

Kleinkunst und Kneipenkultur stehen in vielen Städten vor dem Aus, die Abseits-Rebellen jedoch wollen nicht aufgeben und hoffen irgendwie auf ein Wunder.

Von Thomas Jordan, Freising

Wenn der Name Guy von Moy de Sons fällt, schweigen die Rebellen. Norbert Bürger, Julia Schröter und die anderen auf der Bierbank räuspern sich nervös. Rauer 70er-Jahre-Punkrock dröhnt an diesem warmen Sommerabend über den Bauernhof des ehemaligen Abseits-Wirts Michael Brommont. Aber auch die eingängig hämmernden Beats der Ramones helfen gerade nicht gegen die Anspannung. Die Mitglieder des Vereins zur Rettung der Freisinger Kultkneipe "Abseits" sind auf den guten Willen des "Grafen", wie den adeligen Immobilienbesitzer hier alle nennen, angewiesen.

Jeden Tag kann es jetzt eine Entscheidung geben, wie hoch die Summe ist, die Moy als Kaufpreis für Haupt-, Nebengebäude und das Grundstück im Freisinger Stadtteil Neustift von ihnen verlangt. Von einer bis zwei Millionen Euro ist die Rede und die Augenbrauen des Kabarettisten Norbert Bürger, dem Vereinsvorsitzenden, ziehen sich bedrohlich zusammen, wenn er davon spricht.

In einem weißen Zelt auf dem Hof stehen Tische, die Vereinsmitglieder haben Fleisch und Salate mitgebracht. Rechts glimmen zwei Feuerstellen, der Rauch zieht hinüber in die Maisfelder hinter dem Hof. Es ist ein Ausweichquartier, in dem die Abseitsrebellen ein halbes Jahr Widerstand gegen die Schließung ihrer Stammkneipe feiern. Ein Ort, an dem nach vielen Weißbieren und inmitten dicker Rauchschwaden die Art von Geschichten entstehen, von denen man noch seinen Kindern erzählt. Es geht in ihr um Musikerfreundschaften, die wundersame Kraft von Einhörnen und viel unerwartetes Geld von der Stadt.

37 Jahre lang war das "Abseits" nicht nur Nährboden für den Rock- und Punkmusik-Nachwuchs der Umgebung, sondern mit seiner Kleinkunstbühne auch für Kabarettisten wie Ottfried Fischer eine Institution. Seit Januar dieses Jahres ist es nun geschlossen, Mängel an der Elektrik heißt es, der Besitzer wollte das Gebäude abreißen und dort Wohnungen errichten. Auch wenn das letzte Wort dazu noch nicht gesprochen ist: Schon jetzt haben die Vorgänge in Freising etwas von einer David-gegen-Goliath-Geschichte.

Der Kabarettist Bürger, der seit fast 30 Jahren mit Nummern wie "Bürger from the Hell" über Kleinkunstbühnen tingelt und immer etwas nasal spricht, so als habe er gerade eine Erkältung überstanden, gibt dabei den Anführer der Davids. Die Ereignisse der "Abseits"-Rettung erzählen davon, wie es im Ringen mit den übermächtigen Bedürfnissen nach Wohnen in der Stadt gelingen kann, private Kleinkunst-Reservate zu erhalten.

Der Goliath in dieser Geschichte, Guy von Moy de Sons, stammt aus einem alten französischen Adelsgeschlecht, auf der Flucht vor den Revolutionären kam die Familie 1798 nach München, wo sie Grundbesitz und Schlösser erwarb. Heutzutage kann es einem passieren, dass man am Münchner Odeonsplatz oder am Freisinger Marienplatz im Café sitzt und danach erfährt, dass man seinen Espresso gerade in einem Lokal des Grafen getrunken hat.

Es wäre zu einfach, Guy von Moy als geldgierigen Dagobert Duck abzustempeln, der das historische Abseits-Gebäude in Neustift plattmachen will, nur um höhere Renditen zu erzielen, wie das anonyme Sprayer in einer nächtlichen Aktion angeprangert haben. Schließlich war es der Graf selbst gewesen, der im Januar dem Abseits-Freundeskreis vorgeschlagen hatte, einen Verein zu gründen, der als Käufer des alten Lederer-Areals in Frage kommt.

Seitdem sammeln sie Geld, die vielen Davids in dieser Geschichte. An die 300 Mitglieder hat der Verein, sagt Bürger. In sieben Orga-Gruppen haben sich die 40 Aktiven aufgeteilt: Es gibt lokale Unternehmer wie die Siebdruckerin Elfriede Messerschmitt, die sich um die Vereinskasse kümmert, Architekten, die Nutzungspläne für das denkmalgeschützte Hauptgebäude erarbeitet haben, und Banker, die die Finanzverhandlungen führen. "Du musst total fokussieren", sagt Bürger mit entschlossener Miene zwischen zwei Schlucken Flaschenbier, "in der Musik hatte ich das immer schon. Wenn du spielst, dann gibt es nur diesen Ton, den du spielst und der Rest der Welt ist jetzt wurscht". Einen Chor haben sie gegründet, Benefizkonzerte veranstaltet und die alte Holzbar aus der ehemaligen Lederer-Werkstatt bei Musikfestivals aufgestellt, um Geld zu sammeln für die Erhaltung der "legendären" Abseits-Atmosphäre.

Ein paar Meter entfernt von den anderen Helfern sitzt Christina Vollmer im Schneidersitz im Gras, neben ihr eine Hollywoodschaukel: "Im Abseits konnte man nachts um eins im Schlafanzug und in Stoppersocken aufschlagen" sprudelt es aus der 21-Jährigen im schönsten Norddeutsch heraus. Vor ein paar Jahren kam sie aus Hamburg in die oberbayerische 49 000-Einwohner-Stadt. Im Abseits fühlte sie sich sofort wohl. Sie und ihr 19-jähriger Freund Corvin Eickhoff waren die letzten Neuzugänge, bevor die Kneipe schließen musste. "Abseitskinder", sagt Vollmer lachend und Janis Joplin schreit gerade zum dritten Mal ihr kraftvoll-sehnsüchtiges "Come on" aus der 68er-Hymne "Piece of my Heart" in die warme Nacht hinaus.

Für Christina Vollmer und ihren Freund war das Abseits ein soziales Biotop. "Hier konnte man einfach sein, wie man ist!" In seinem Buch "Die Kultur der Stadt" hat der Soziologe Walter Siebel vor kurzem gezeigt, dass Städte nur dann zu Hochburgen von Innovation und Kreativität werden, wenn "Kommunikation über die Grenzen von gesellschaftlichen Milieus" zu Stande kommt. Wenn Unternehmer mit Musikern reden, Banker mit Kabarettisten. Gelingt das nicht, schade das den Städten auch ökonomisch, behauptet Siebel. Gut möglich, dass Tobias Eschenbacher dessen Stadtentwicklungsbibel gelesen hat.

Der 38 Jahre alte Oberbürgermeister ist gut informiert, wenn es um neue Vorschläge für das Miteinander von Wohnen, Einkaufen und Kultur geht. Früher war er selbst Kneipenwirt. "Wir kennen uns aus der Musikerszene", erzählt Bürger auf dem Weg in das Rathaus. Seinen Wagen hat er gerade wild in der Innenstadt geparkt, "passt schon". Das Treffen im Dienstzimmer des OB hat dann etwas von einem Kaffeeklatsch, alle vier Wochen sehen sich Bürger und Eschenbacher zurzeit in Sachen "Abseitsrettung". Auch Bürgers Lebensgefährtin Julia Schröter kommt auf einen Kaffee mit dazu, Fotos werden gemacht, freundliches Händeschütteln. Und zum Klacken des Blitzlichts raunt der OB Bürger dann zu, dass es verhandlungsreife finanzielle Zusagen der Stadt in Sachen Abseits gibt. Es verspricht eine unerwartete Wendung zu nehmen, das Gespräch an diesem Montagnachmittag an dem runden, weißen "Sozialpädagogentisch", wie die Frau des OB seinen Kaffeetisch nennt.

Eine gute halbe Stunde lang erklärt Eschenbacher, dass Stadtverwaltungen nur wenig Handhabe haben, um private Kultur-Reservate wie das "Abseits" zu erhalten. "Wir können einem Hauseigentümer nicht vorschreiben, an wen er seinen Laden vergibt, wir können nur sagen, an wen er ihn nicht vergeben darf." Ganz am Ende des Gesprächs lässt der OB, der mit seinem durchdringenden Blick und der sonoren Stimme auch einen guten Rockmusiker abgäbe (und es auch manchmal tut), dann fast beiläufig seinen kleinen kommunalpolitischen Sprengsatz fallen: "Wir diskutieren gerade, ob wir das Ganze durch gewisse finanzielle Darlehen von der Stadt aus finanzieren können." Auf Nachfrage fügt er hinzu: "Das geht dann schon in den siebenstelligen Bereich." Er könne sich vorstellen, Veranstaltungen aus dem historischen Asam-Theater, das demnächst renoviert wird, ins Abseits zu verlegen. Städtische Mitnutzung nennt man das und die Stadt darf dafür zinslose Darlehen vergeben. Norbert Bürger, der Übervorsichtige, fragt zur Sicherheit noch einmal nach, ob er die Nachricht öffentlich machen könne. Eschenbacher gibt ihm sogar noch eine passende Formulierung mit auf Weg. Auf einmal sieht es gut aus, für die Bürger-Träume ums "Abseits".

Mit ihren hohen schmalen Kaminschloten aus rotem Backstein und den efeubewachsenen Außenmauern bilden die Abseits-Gebäude eine Insel der Vormoderne inmitten des Neubaugebiets in Neustift. Norbert Bürger breitet das Vereinsorganigramm auf dem obersten Absatz der Betontreppe aus, die dazwischen durch führt: Rechts liegen die getrimmten Rasenflächen der strahlend-weißen Neubauwohnungen, links wuchern Gräser und Büsche hinter der Gartenmauer aus dem 18. Jahrhundert. Unten in die linke Ecke des Organigramm-Plakats hat jemand ein grünes Einhorn gemalt. Mit seinem hohlen Auge grinst es zuversichtlich schräg nach oben auf die Vereinsstruktur. "Das hat irgendjemand gesagt, dass da ein Einhorn drauf muss", nuschelt Bürger. "Ich wusste auch erst nicht warum, aber ich hab's dann schon eingesehen, dass das wichtig ist. Das bringt uns den rechten Segen."

© SZ vom 13.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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