Fotoindustrie:Schlussakt mit großem Knall

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Der letzte Akt: Mit 125 Kilo Sprengstoff wird der Agfa-Turm in Obergiesing zu Fall gebracht. (Foto: Claus Schunk)

Agfa hatte Weltgeltung, dann aber verpasste die Firma den Anschluss. Nun wurde der große Turm gesprengt.

Von Wolfgang Görl

Am Morgen des 17. Februar 2008, eines Sonntags, pilgern rund 15 000 Münchner nach Obergiesing, um einem Spektakel beizuwohnen. Das bekommen sie auch geboten: Um 12.06 Uhr hallt der Detonationsknall von 125 Kilo Sprengstoff durch den Stadtteil, dann neigt sich der 52 Meter hohe Agfa-Turm, der fast 50 Jahre lang an der Tegernseer Landstraße stand, gemächlich zur Seite und sinkt unter einer gewaltigen Staubwolke in sich zusammen. Einer der Zuschauer klagt: "Da wird nicht nur ein Teil Giesinger Geschichte, sondern auch ein Stück Münchner Industriegeschichte einfach plattgemacht. Das tut mir richtig weh."

Die Geschichte beginnt am 12. Juli 1896 in der Maxvorstadt. An diesem Tag gründet der aus Dresden stammende Optiker Alexander Heinrich Rietzschel (1860-1939) an der Gabelsbergerstraße 36 die "Optische Anstalt A. Hch. Rietzschel". Der Firmengründer, der bei Carl Zeiss in Jena eine Feinmechaniker- und Optikerlehre absolviert hatte, feiert erste Erfolge mit seinem patentierten Objektiv "Linear 4,5", und noch besser läuft seine erste Kamera, die "Clack 1900", die zur Jahrhundertwende auf den Markt kommt. Es folgen Amateurapparate und Studiokameras aller Typen, welche die Expansion des Werks, das mittlerweile unter Rietzschel GmbH firmiert und bis zu 200 Mitarbeiter beschäftigt, weiter fördern. Im Jahr 1921 steigt die Bayer AG ein und kauft drei Jahre später alle Anteile der Gesellschaft. Nach der Gründung der I.G. Farben, zu der auch Bayer gehört, wandert Rietzschels Kamerawerk unter das Dach der Agfa-Gruppe, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Berlin als Fabrik für "chemische Präparate für photographische Zwecke" gegründet worden war. Der Name Agfa steht für "Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrikation".

Seit 1926 tragen alle Modelle der Münchner Rietzschel-Reihe das Agfa-Firmenlogo. Den Rollfilm-Kameras wie "Billy", "Jsorette" oder der billigen Volkskamera Agfa-Box folgt 1937 die erste Kleinbildkamera für den 35-Millimeter-Film, die "Karat".

Während des Zweiten Weltkriegs wird das Agfa-Werk an der Tegernseer Landstraße zu einem Rüstungsbetrieb, in dem Teile für die V1- und V2-Raketen sowie Zünder für Flakgranaten angefertigt werden. Hunderte Zwangsarbeiterinnen, welche die Firmenleitung aus Konzentrationslagern angefordert hat, müssen unter unmenschlichen Bedingungen Kriegsgerät produzieren.

Nach dem Krieg und der Zerschlagung der I.G. Farben läuft die Produktion des Agfa-Camerawerks München wieder an - zunächst allerdings schleppend. Später boomt das Fotogeschäft, in den Sechziger- und Siebzigerjahren beschäftigt das Münchner Werk bis rund 6000 Mitarbeiter. Dann beginnt die Firma zu kriseln, immer mehr Angestellte werden entlassen. Zu Beginn des folgenden Jahrzehnts verlagert Agfa die Produktion der "Selectronic"-Reihe nach Fernost, 1983 muss man sich dem Konkurrenz- und Preisdruck aus Asien erneut beugen: Die Kameraproduktion wird eingestellt.

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Für den Bereich Film, Fotopapier, Chemikalien und Laborausrüstungen geht es unter der Flagge von Agfa-Gevaert weiter, die digitale Fotografie jedoch lässt die Zelluloidsparte zunehmend ins Hintertreffen geraten. Im August 2004 trennt sich der belgische Konzern von der traditionsreichen Sparte, es entsteht das selbstständige Unternehmen Agfa Photo. Doch der neue Anlauf misslingt. 2005 ist die Firma insolvent. Drei Jahre später kommt der Sprengmeister.

© SZ vom 04.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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