Filmgespräch:Verneigung vor einem Geächteten

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Lanzmann hält Murmelstein für klug und wahrhaftig. (Foto: AFP/Guillaume Souvant)

Claude Lanzmann stellt im City Kino seine große Dokumentation "Der Letzte der Ungerechten" über den Judenältesten in Theresienstadt, Benjamin Murmelstein, vor

Von Eva-Elisabeth Fischer, München

Der Schöpfer von "Schoah", dem letztgültigen filmischen Epos über die Vernichtung der europäischen Juden, ist dafür extra nach München gekommen. Claude Lanzmann begleitet sein Gesprächsporträt "Der Letzte der Ungerechten" des Judenältesten in Theresienstadt, Benjamin Murmelstein, im City Kino vor kleinem Publikum und grummelt sogleich: "Es erstaunt mich, dass dieser Film hier noch nicht im Kino gezeigt wurde. Es ist doch fast ein deutscher Film." Herausgekommen ist die Dokumentation 2013. Sie basiert auf einem Gespräch, das Lanzmann mit dem ehemaligen Rabbiner und Funktionär der Israelitischen Kultusgemeinde Wien 1975 in Rom im Zuge der Dreharbeiten für "Schoah" geführt, aber später nicht verwendet hatte.

Claude Lanzmann ist fast 90 Jahre alt. Er geht am Stock, er hört schlecht, aber das Hirn funktioniert wie je. Auch im hohen Alter erspart er seinem jeweiligen Gegenüber nichts. Bei den Gesprächspartnern für seine Dokumentationen gehörten Abwarten, Zuhören und im richtigen Moment Zuschnappen nach Art des Großinquisitors bei der erbarmungslosen Wahrheitsfindung zur bewährten Praxis . Bei allen anderen Menschen regiert die Unduldsamkeit. Die kriegt am Ende bei der Publikumsdiskussion eine Zuschauerin anlässlich ihrer ausufernden Dankesworte zu spüren. "Fragen Sie mich etwas", unterbricht sie Lanzmann, "halten Sie keinen Vortrag!".

Er hatte jahrelang mit sich gerungen, das Material zu einem eigenen Film zu montieren. "Es war schwierig, ihn zu schneiden und aufzubereiten, um allen gerecht zu werden", sagt Lanzmann. Denn das Thema "Judenräte" ist diffizil, weil hier die Rollen nicht klar definiert sind. Hannah Arendt hatte für die Judenräte nur Verachtung üblich. Sie war nicht allein mit ihrem vorschnellen Urteil, in ihnen allein um den eigenen Vorteil bedachte Kollaborateure der Nazis zu sehen.

Murmelstein, er nennt sich selbst den letzten Ungerechten, war kein Handlanger der Nazis. Dennoch hat man ihm nach dem Krieg den Prozess gemacht. Die Israelis ließen ihn nicht zum Eichmann-Prozess ins Land, obgleich er, der sieben Jahre mit dem Organisator des Massenmords zu tun hatte, Entscheidendes beizutragen gehabt hätte. Zum Beispiel, dass Eichmann eigenhändig in der Kristallnacht Hand angelegt hat. Murmelstein blieb bis zu seinem Tode geächtet. Selbst der Oberrabbiner hatte ihm bei der Beerdigung das Kaddisch, das jüdische Totengebet, verweigert.

Lanzmanns nahezu vierstündige Dokumentation steuert auf ihre Klimax zu, wenn es um die existenziellen Ambivalenzen des "nicht immer sehr angenehmen Berufes Judenrat" (Murmelstein) geht, also um die Fragen von Macht in der Ohnmacht, und letztlich um die Priorität des eigenen Überlebens. Murmelstein im Film wie auch Lanzmann in der Publikumsdiskussion zitieren den jiddischen Schriftsteller Isaac Bashevis Singer, wonach Märtyrer nicht notgedrungen Heilige waren. Die Opfer der Schoah waren Märtyrer, aber behaftet mit allen menschlichen Schwächen.

"Die menschliche Natur und jüdische Natur sind gleich", sagt Lanzmann im Kino. Er legt dabei den gleichen sardonischen Humor an den Tag wie Murmelstein im Film. Der beschreibt seine Funktion als Mann zwischen "Hammer und Amboss", der allenfalls einige Schläge abwehren konnte. Und entlarvt Eichmanns Auswanderungspläne für die Juden schockierend unverblümt als Täuschungsmanöver aus Geldgier: "Es hieß ja nicht ,Juda verreise!', sondern ,Juda verrecke!'." Solchen Zynismus legt an den Tag, wer die Routine des allgegenwärtigen Todes im Lager gekostet hat. Oder einer wie Claude Lanzmann, dessen Lebenswerk sich in der Beschäftigung mit dem Wie und Warum dieser Mordmaschinerie manifestiert. "Der Letzte der Ungerechten" rehabilitiert Murmelstein postum als Retter von etwa 120 000 Juden. Lanzmann legt ihm im Schlussbild des Films den Arm um die Schulter - eine unerwiderte Geste der Zuneigung.

Man muss nur genau hinschauen in diesem Film. Dann erübrigen sich die immer gleichen Fragen dazu, deren Lanzmann müde ist, deren Antworten er aber bemüht ist, für den jeweiligen Frager neu zu paraphrasieren.

© SZ vom 06.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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