Film:"Missbrauch ist böse Realität"

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"Sie ist kämpferisch", sagt die Regisseurin über ihre Protagonistin. Nach all den Grausamkeiten schafft sie es, sich ein friedliches Leben aufzubauen. (Foto: basisfilm)

Helen Simons Dokumentarfilm "Nirgendland" hat Premiere im Monopol

Von Ekaterina Kel, München

"Und auf einmal erfährst du von Dingen, die so grausam sind, dass man sich das gar nicht vorstellen kann", erzählt Regisseurin Helen Simon von den Gesprächen mit Tina, die zwei Jahre gedauert haben. Die Protagonistin des Dokumentarfilms "Nirgendland" wurde als Kind von ihrem Vater jahrelang sexuell missbraucht. Sie schwieg und verdrängte. Als derselbe Täter sich an ihrer eigenen Tochter vergriff, schaute sie weg, weil sie den Schmerz schon zu tief verstaut hatte. "Nirgendland" handelt von dieser Grausamkeit, die so brutal ist, dass sie weit jenseits der gewöhnlichen Vorstellungsgabe liegt. Sie fand hinter verschlossenen Türen statt, nur elf Kilometer von München entfernt, im Landkreis Starnberg.

"In diesem Film geht es um das Sichtbarmachen. Das Sichtbarmachen-Wollen, aber nicht können", sagt Helen Simon. Für diese Grausamkeit Bilder zu finden, ist eine künstlerische Aufgabe, der sie sich in ihrem Abschlussfilm an der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) gestellt hat. Dabei begreift sie ihre Arbeit eindeutig als gesellschaftlichen Beitrag. Was sie beschreibe, sei kein Einzelphänomen. Die grauenvollen Taten kämen sehr häufig vor, vier von zehn Kindern in einer Kindergartenklasse hätten Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt. "Wir haben ein richtiges gesellschaftliches Problem. Das ist ernst", warnt Simon. Doch wie zeigt man das, ohne einen Zeigefinger zu heben, und wie lässt man die Zuschauer am Denkprozess teilhaben? Gemeinsam mit ihrer Kamerafrau Carla Muresan und ihrer Schnittmeisterin Nina Ergang schafft Helen Simon in einfühlsamen Nahaufnahmen und vorgelesenen Gerichtsprotokollen Bilder, die eine starke Tonspur stützen.

"Die Zuschauer sollen mit dem Film kämpfen", sagt sie. "Nirgendland" will keine einfachen Antworten oder Erklärungen liefern, sondern die Zuschauer mit Fragen konfrontieren: Warum sind wir Menschen zu solchen grausamen Taten überhaupt fähig? Was ist der Mensch, dass er das tun kann? Ist es psychisch im Menschen angelegt oder ist es ein strukturelles Problem, dass so etwas von der Gesellschaft möglich gemacht wird? "Ich stehe fassungslos vor dem ganzen Elend, aber es gehört zur Menschheitsgeschichte dazu", sagt Simon.

Die Thematik des familiären Missbrauchs habe sie deswegen so interessiert, weil es innerhalb dieses Ideals "Familie" am wenigsten vorstellbar sei. Sexuelle Gewalt innerhalb der eigenen Familie verrücke unser Weltbild. Und so versuchten wir immer wieder, es geradezubiegen, "weil es sonst kaum auszuhalten ist". Die Sehnsucht nach einfachen Erklärung ist groß. Auch bei Tina, die jahrelang die verstörenden Erinnerungen tief im Unbewussten zu vergraben suchte. "Ich selber halte das kaum aus. Aber wir werden nie etwas daran ändern, wenn wir nicht lernen, hinzuschauen", sagt Helen Simon.

Ändern will die studierte Philosophin auch das simple Opfer-Täter-Bild. Für sie sei Tina auch in der Mittäterschaft und trage die Mitverantwortung für den Selbstmord ihrer Tochter. Das Wegschauen gehöre zu den strukturellen Problemen unserer Gesellschaft, meint Simon. "Wie schafft man es, einerseits die Ereignisse nicht wieder gerade zu rücken und trotzdem diejenige, der das passiert, nicht nur auf ihre Opferrolle zu reduzieren?" Mit Tina zeichnet Simon ein Porträt einer "unschuldigen Schuldigen". Sie muss beide Tatsachen aushalten: Sie ist Opfer und Mittäterin. Tina entschied sich schon vor Jahren für eine Identitätsänderung, änderte ihren Namen, weil sie sagte: Ihr altes Ich habe das Ganze nicht überlebt, "sie war zu schwach." Für Simon sei das ein enormer kreativer Akt: "Der Mensch hat irgendwie diese kreative Kraft in sich, obwohl er so misshandelt wurde, sich selbst neu zu erschaffen." Den Film machte Tina für ihre Tochter Floh, weil sie bis heute die Mitschuld fühle.

2001 verklagte Floh schließlich ihren eigenen Großvater. Der Angeklagte wurde jedoch freigesprochen. Der Film formuliert eine erneute Anklage. Aber nicht gegen den Täter, sondern gegen das Gericht. "Wir werden immer Täter haben. Das einzige, was wir tun können, ist die Strukturen drum herum zu verändern, damit sie es nicht mehr so einfach haben. Ich will zeigen, wie unfair das ist."

Das Leben sei voller Widersprüche, die wir halten müssen, sagt Simon. Über eine Diskussion würde sie sich sehr freuen. Darauf kann sich die Regisseurin am Donnerstag, 2. April, nach der Filmpremiere im Monopol um 20 Uhr gefasst machen. Auch Tina wird anwesend sein.

© SZ vom 01.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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