Fast vergessenes Handwerk:Arbeiten mit Herrn Jacquard

Lesezeit: 5 min

Sylvia Wiechmann ist eine von sehr wenigen Handweberinnen Bayerns. Auf einem 100 Jahre alten Webstuhl stellt sie Schals, Tischwäsche und historische Muster für Museen her

Von Martina Scherf

Das rhythmische Klacken ist von weitem zu hören. Die Tür steht offen, und der Ton des Webstuhls dringt wie ein langsamer lauter Herzschlag nach draußen: klack - klack - klack. So ist die Werkstatt mühelos auf dem langen Flur im Gewerbehof Westend zu finden. Sylvia Wiechmann sitzt konzentriert vor ihrem Webstuhl. Ihr rechter Fuß drückt den Tritt, ihre rechte Hand schwingt die Peitsche, die linke bewegt die Lade vor und zurück. Eine rhythmische Abfolge von Schleifen, Schaben, Klacken.

Peitsche, Schiffchen, Harnisch, Lade - die Weberei, eines der ältesten Gewerke der Menschheit, ist ohne Fachbegriffe kaum zu verstehen. Also noch einmal langsam: Mit dem Tritt, eine Art Pedal, werden die Kettfäden geöffnet, die eine Hand schießt die Spule auf dem Schiffchen durch die Lücke, die andere Hand drückt mit der Lade die Fäden fest. Kette und Schuss, das ist das Grundprinzip der Weberei.

"Und das ist Herr Jacquard", stellt Sylvia Wiechmann ihren Webstuhl vor. Für die 57-Jährige ist er nicht nur ein Arbeitsgerät. Er ist ein treuer Gefährte. Sie hat ihn gesucht und gefunden, umgebaut und arbeitet jeden Tag mit ihm.

Der Jacquard-Webstuhl ist nach dem französischen Weber benannt, der im frühen 19. Jahrhundert einen Meilenstein der Industriellen Revolution setzte. Joseph-Marie Jacquard, der schon als Kind in der väterlichen Werkstatt schuften musste und keine Schule besuchen durfte, hatte die Mühsal satt. Nach den Kriegswirren in der Französischen Revolution übernahm er die Werkstatt des Vaters und erfand 1805 eine Vorrichtung, mit der sich endlose Muster von beliebiger Komplexität durch ein Lochkarten-System herstellen ließen - die erste programmierbare Maschine. "Das war genial", sagt Wiechmann, "auch der erste Computer funktionierte mit Lochkarten."

Wiechmanns Webstuhl stammt aus der Münchner Kunstakademie, wo er jahrelang ungenutzt im Keller stand. Zusammen mit ihrem Mann, der Informatiker ist und die Leidenschaft seiner Frau unterstützt, wo er kann, hat sie ihn restauriert. Sie haben Latten ausgetauscht, einen neuen Harnisch, die Zugvorrichtung, angebracht und die Rollen, auf denen das Schiffchen sich bewegt, in Pakistan entdeckt. "Das schwierigste war, eine Stanze für die Lochkarten zu finden", erzählt die Weberin. Sie hat Werkstätten, Museen und Privatleute in ganz Deutschland abtelefoniert, bis sie endlich eine dieser seltsamen metallenen Maschinen fand, die aussehen wie ein Mini-Klavier mit acht Tasten. Damit stanzt sie Löcher in die Karten, die dann zu einem Band zusammengenäht und oben im Webstuhl hängend von Nadeln abgetastet werden.

Jedes neue Muster wird erst gezeichnet, dann auf Millimeterpapier übertragen. Dann werden die nötigen Löcher in den Karten berechnet. Das Ganze sieht nach höherer Mathematik aus. "So schlimm ist es nicht, aber pro Karte gibt es 400 Möglichkeiten, Fehler zu machen", sagt Wiechmann und lacht. Und wenn man sich verwebt hat? "Herr Jacquard kann auch rückwärts weben", sagt sie, aber mehr als zwei, drei Fäden sollten es nicht sein, sonst wird das Auflösen zu mühsam.

Sylvia Wiechmann kam über Umwege zur Weberei. Die Arbeitertochter aus dem Ruhrgebiet hatte den Pflegeberuf gelernt. In der Beschäftigungstherapie mit Patienten entdeckte sie ihr Faible für textiles Gestalten. Und als sie bei einem ihrer vielen Museumsbesuche auf die Weberei stieß, "war klar: Das will ich lernen", erzählt sie. Mit 29 Jahren und schon verheiratet, suchte sie eine Lehrstelle und begann als Gesellin in der Handweberei Petri am Tegernsee. "Das waren schöne Jahre." Das Handwerk war ihr so wichtig, dass sie eine Fernbeziehung in Kauf nahm: Ihr Mann arbeitete damals als Informatiker in Nürnberg.

Sie hat dann 1994 ihren Meister gemacht und vor 20 Jahren ihre eigene Werkstatt in München eröffnet, mit einem schwedischen Damastwebstuhl. Darauf webt sie bis heute Wandbehänge, Bilder, Tischwäsche und wertvolle historische Auftragsarbeiten für Kirchen und Museen.

Inzwischen stehen mehrere Webstühle in ihrer Werkstatt. "Jackie" ist noch älter als Herr Jacquard und stammt von einer Försterin aus dem Spessart. Wiechmann bekam ihn angeboten und konnte nicht Nein sagen. Sein Harnisch hängt wie ein ausrangiertes Fischernetz im Rahmen, unvorstellbar, dass sich dieses Fadenknäuel je entwirren lässt. "Das braucht nur etwas Zeit", sagt Wiechmann. Sie will den alten Kameraden weiterentwickeln und sehen, welche Muster sie mit ihm weben kann.

Auf einem großen Kontermarsch-Webstuhl webt ihre Kollegin Hermine Kraus, die seit ein paar Jahren die Werkstatt mit Wiechmann teilt, Mohair-Decken und Schals. Dann gibt es noch einen kleinen Webstuhl für Anfänger. Denn man kann in der "Damastweberei Wiechmann" auch das Handwerk lernen - vom Schnupperkurs bis zur Beratung bei komplizierten Sonderwünschen.

Jedes Stück ist ein Unikat und trägt die Handschrift der Weberin, auch wenn sich Muster wiederholen. Wiechmanns Aufträge sind ganz unterschiedlich. Sie hat Stoffbahnen mit Werbesprüchen für den Messestand einer Software-Firma hergestellt, und einmal kam eine Kundin und wollte sieben Kissen für ihre sieben Kinder. Wiechmann bat die Frau, die Kinder ihre Namen mit dickem Filzer auf Papier schreiben zu lassen und webte die individuellen Schriftzüge in den Stoff. Einmal schickte ein Kunde ein Foto von einem Stück Stoff aus dem Mittelalter und wollte es originalgetreu nachweben lassen. Er nähte sich ein Reliquienbeutelchen daraus - was er darin am Körper trug, verriet er nicht.

Immer wieder wird die Kunsthandwerkerin auch von Kirchen und Museen angefragt. Sie hat schon römische Stoffe aus Palmyra nachgewebt und Blöckchendamast einer Grabbeigabe aus Trier. Zur Eröffnung des Europäischen Hansemuseums Lübeck 2015 hat sie Kölner Borten gewebt. Das sind 15 mal 40 Zentimeter große, edle Seidengewebe mit aufwendigen Mustern aus dem 13. Jahrhundert. Das Weben eines solchen Stücks dauerte einige Tage, die Vorbereitungszeit aber viel länger. "Ich suchte nach geeigneten Farben und Fäden, musste die Kettberechnung austüfteln, und dann habe ich mal wieder meinen Webstuhl umgebaut", erzählt die Weberin. Ihr Schreiner-Nachbar im Gewerbehof half ihr dabei, "wir halten hier zusammen".

Leben kann man nicht von der Handweberei, sagt sie, deshalb arbeitet sie nach wie vor Teilzeit in einer Behinderteneinrichtung. Doch sie ist jeden Tag in der Werkstatt. "Mein Jahresrhythmus richtet sich nach den Ausstellungen", sagt sie: Open Westend im Frühjahr, Kunsthandwerkermärkte im Sommer, die eigene Werkstattausstellung im November.

Wenn Sylvia Wiechmann Muse hat, dann entwirft und webt sie Wandbilder. Die sind oft vom Bauhaus inspiriert, "dort wurde Textildesign ja sehr gefördert". Vor kurzem hatte sie eine Einzelausstellung in der Münchner Künstlervereinigung Gedok, gerade bereitet sie eine Schau in der Galerie des Kunstgewerbevereins vor.

"Ein Leben ohne Weberei kann ich mir nicht mehr vorstellen", sagt sie. Mit ein paar Balken, Schnüren und Fäden so wunderbare Dinge herstellen zu können und dabei zu wissen, dass man Teil einer uralten Technik ist, das sei die Faszination. Als sie damals die historischen Borten für das Hansemuseum webte, hat sie zuerst die Muster studiert, recherchiert, berechnet und wieder die Vorlage studiert. "Aber erst beim Selbermachen begreift man, warum die damals diesen haptischen Effekt erzielten", sagt sie. "An so einem Tag habe ich manchmal das Gefühl, mir würde der Weber aus dem 13. Jahrhundert über die Schulter schauen."

Vom 20. Januar bis 18. Februar sind Arbeiten von Sylvia Wiechmann in der Galerie des Bayerischen Kunstgewerbevereins zu sehen, Montag bis Samstag, 10 bis 18 Uhr, Pacellistraße 6-8. Am 3. Februar, 16 bis 18 Uhr, gibt es wieder eine Werkstatt-Führung, Gollierstraße 70, Aufgang C, 2. OG

© SZ vom 17.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: