Ex-Kindersoldat Samuel:"Du musst ein Krieger sein"

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Im angolanischen Bürgerkrieg wurde Samuel als Kindersoldat missbraucht, heute rappt der 21-jährige Münchner über seine Vergangenheit, um sie zu verarbeiten.

Monika Manke

Dass ein Tag das Leben so verändern kann, hätte Samuel nie gedacht. Die Erinnerung an den Tag, an dem er seine Familie verlor, hat sich in Samuels Gedächtnis gefressen wie eine Brandnarbe: "Es war Mittwoch, ich kam von der Schule nach Hause und dann sah ich das Feuer", sagt der 21-Jährige heute. Menschenmassen strömten ihm entgegen, die Nachbarin rief, er solle weglaufen: "Die Rebellen." Aber er sei wie gelähmt gewesen, als er das Haus seiner Familie in Flammen stehen sah. Von seinen Eltern und Brüdern keine Spur. Das ganze Dorf Andulo im Zentrum Angolas brannte und machte die 300 Bewohner - überwiegend Bauern - innerhalb weniger Stunden zu Flüchtlingen im eigenen Land. Doch damit nicht genug. Samuel sollte bald vom Flüchtling zum Kämpfer werden - bewaffnet mit einer Kalaschnikow, die größer war als er selbst.

Heute, elf Jahre später, sitzt Samuel im Münchner Hofgarten und genießt den Feierabend. Sein Blick schweift in die Ferne, wenn er von seiner Vergangenheit erzählt. Vom Bürgerkrieg zwischen der angolanischen Regierung und den Rebellen. "Klar, wir wussten, dass es keinen Frieden in unserem Land gab." Im Boden waren Minen versteckt: Die Sprengsätze verstümmelten Arme und Beine von Samuels Freunden. Doch der richtige Krieg war lange ferne Realität.

Blutiger Bürgerkrieg An den Befreiungskrieg gegen die Kolonialmacht Portugal hatte sich 1975 in dem westafrikanischen Land unmittelbar ein Bürgerkrieg angeschlossen, nach den Parlamentswahlen 1992 kämpften Regierung und Rebellen um Macht und Bodenschätze. Erst nach dem Friedensschluss 2002, als Samuel bereits sein Leben in Deutschland begonnen hatte, endete der Krieg nach 27 Jahren. Da hatte er bereits etwa 500.000 Menschen das Leben gekostet, waren 4,5 Millionen vertrieben - ein Viertel der Bevölkerung.

"Wir liefen zwei Tage", setzt Samuel seine Schilderung fort - "eine riesige Horde Menschen, viele Frauen und Kinder, bis wir in einem anderen Dorf blieben". Keiner hatte seine Familie gesehen, sei-nen Vater, der für das angolanische Militär arbeitete, seine Mutter, eine Lehrerin, und die zwei älteren Brüder. Das hinterließ in dem damals 10-Jährigen aber auch die Hoffnung, dass sie womöglich noch leben.

"Du hast keine Wahl" Samuel verlor damals zwar nicht sein Leben, aber das Recht, Kind zu sein. "Es gibt bei uns ein Sprichwort: Hast du keinen Hund, musst du mit der Katze jagen", sagt Samuel. So seien auch die Kinder zu Kriegern geworden. "Wir nahmen die Gewehre, meistens AK 47, von den Toten und versuchten, uns und unser Dorf vor den Rebellen zu schützen", erzählt er. Im Abstand von wenigen Tagen hätten sich die Männer im Dorf und Kinder wie Samuel fortan gezwungen gesehen, bei Angriffen zur Waffe zu greifen.

"Soldaten und Kämpfer werden zu Vorbildern und dann siehst du deine Freunde mit Gewehren. Du weißt, die Rebellen werden wieder kommen. Da hast du keine Wahl", sagt Samuel und seine Stimme wird leiser. "Du musst ein Krieger sein." Nach einer Pause erzählt er weiter, der Rückstoß des Schusses habe ihn "umgehauen", als er zum ersten Mal den Abzug drückte. "Es dauerte zwei Stunden bis ich wieder hören konnte , so stark und laut war der Schuss."

Durch Gewehre in Kinderhand setzte sich in Angola ein Konflikt fort, der mehr als doppelt so alt war wie die jungen Soldaten selbst, die die Schüsse abfeuerten. "Irgendwann sind Schüsse ganz normal. Du hörst sie wie ein Auto, das vorbeifährt", sagt Samuel. Was bleibt und nie zur Normalität wird, ist die Angst: "Ich hatte Angst, getötet zu werden, Angst, dass meine Freunde sterben. Am meisten befürchteten wir, dass uns die Rebellen schnappen", sagt Samuel und wirft ein paar Grashalme in die Wiese. "Die manipulieren dich total oder sie zwingen dich, deine Familie vor ihren Augen zu erschießen - als Beweis, dass du ein richtiger Kämpfer bist."

Gefühl der Machtlosigkeit Wie viele Kinder von der angolanischen Armee sowie von den Truppen der Rebellen für ihre Zwecke missbraucht wurden, ist nicht klar. In einem Bericht aus dem Jahr 2003 jedoch schätzt Abubakar Sultan, verantwortlich bei Unicef für das Kinderschutzprogramm, die Zahl der ehemaligen Kindersoldaten auf 8000 und sagt, diese Schätzung sei "wahrscheinlich zu niedrig". Weltweit kämpfen nach Angaben der Vereinten Nationen heute etwa 300.000 Kinder in 17 Konflikten für bewaffnete Gruppen. Gemeinsam teilen sie Erfahrungen, in denen Tod und Gewalt zur gelebten Wirklichkeit gehören.

Auch in Samuels Erinnerung lebt das Gefühl, machtlos zu sein, keine Wahl zu haben. Nach den Gefechten seien die Gefühle meist aus allen unweigerlich heraus gebrochen: "Wir haben dann sehr viel geweint und versucht, uns zu trösten oder mit Drogen abzulenken - aber schließlich konnten wir nichts anderes tun, als uns zu verteidigen."

In Gruppen zu etwa fünf Jungen seien sie meist losgegangen, um sich gegenseitig zu decken. Mit ausgeklügelten Pfeifsignalen warnten sie sich, gaben sich ihre jeweiligen Positionen durch, erklärt er die Situation eines Angriffes. "Wenn du siehst, dass sich etwas bewegt, schießt du. Ob du getroffen hast, weißt du oft gar nicht genau. Danach, wenn es wieder still ist, musst du zuerst schauen, ob du selbst verwundet bist. Und dann sammelst du die Waffen von Toten ein." Wenn Samuel von den Waffen spricht und davon, wie man sie in Schuss hält, klingt es für einen 21-Jährigen ungewohnt fachmännisch. Doch der Krieg war zur Realität geworden, die Verteidigung zur wichtigsten Aufgabe. "Wir dachten nicht an Zukunft. So oder so stirbst du."

Umzug nach München Samuel hatte Glück, wurde nie schwer verwundet und konnte Angola im Winter 2001 verlassen - ein Jahr bevor der Krieg dort endlich enden sollte. Eine Hilfsorganisation hatte Samuel und die übrigen Menschen im Dorf schließlich befreit und nach Luanda gebracht. In der Hauptstadt Angolas, hatte sich Samuel eine Zeit lang mit Gelegenheitsjobs wie Autoputzen oder Tablettenverkaufen auf der Straße durchgeschlagen und dabei einen Geschäftsmann kennen gelernt, der ab und zu beruflich nach Deutschland reiste. Der Mann machte einen Onkel Samuels ausfindig, der in der Nähe von München lebt und der den damals 13-jährigen Neffen bei sich aufnahm.

"Es war alles so neu. Ich hatte Angst vor den Menschen. Hier waren so viele und fast alle weiß. Und ich hatte in Angola vom Nazi-Regime in Deutschland gehört." Doch München entpuppte sich als Chance. Die Schule mit Bravour gemeistert, eine feste Anstellung als Elektroniker bei einem Münchner Unternehmen, neue Freunde und eine Familie hier, die Möglichkeit Musik machen zu können - Samuel ist zufrieden.

Über seine Zeit und die Erfahrungen in Angola spricht er sonst selten. Natürlich waren seine Klassenkameraden während der Lehre zum Elektroniker neugierig und wollten wissen, wie es im Krieg war. Er habe ihnen aber nie alles erzählt.

Im Kindesalter kampferprobt und maßlos überfordert: Mit Situationen konfrontiert, die selbst bei gut ausgebildeten und erfahrenen Soldaten schwere Traumata auslösen, sie teilweise sogar in Alkoholismus oder Rauschgiftkonsum treiben. Samuel wurde in München anfangs von einem Pfarrer betreut, der mit ihm seine Erlebnisse in Gesprächen aufarbeitete. Die Rückkehr in ein normales Leben hat er so erfolgreich gemeistert.

Trotzdem sitzen die Spuren des Krieges tief. Alpträume haben ihn in den ersten Jahren in Deutschland nachts häufig aus dem Schlaf gerissen: "Da liegt zum Beispiel ein Mann am Boden, aus seiner Brust quillt das Herz und Fleisch heraus. Er ist tot und ein Kind spielt mit dem Muskel, der nicht mehr schlagen wird", beschreibt Samuel und lächelt dann fast verlegen.

Bilder wie diese sind schwer aus dem Kopf zu verbannen, aber vielleicht sind sie es auch, die den Blick auf die gegenwärtige Realität schärfen. "Wir wussten ganz genau, dass Gewalt nichts bringt, aber wir hatten keine Wahl", sagt er. Hätten sie sich nicht verteidigt, wären sie getötet oder von den Rebellen verschleppt und unter ihren Befehl gestellt worden.

In der linken Hand das Mikrofon Seine Stimme wird lauter, der Blick engagierter. "Das ist der Unterschied zu Jugendlichen in Deutschland, die gewalttätig sind", sagt er. Viele würden seiner Ansicht nach aus Neid Krawall anzetteln, vielleicht sogar aus Langeweile.

In den vergangenen Wochen entfachten gleich zwei brutale Bluttaten eine bundesweite Diskussion über Jugendkriminalität. Zuerst prügelten zwei Jugendliche am Münchner S-Bahnhof Solln einen couragierten Geschäftsmann nieder, der sich schützend vor Kinder gestellt hatte. Wenige Tage später lief ein 18-jähriger Gymnasiast Amok und verletzte mehrere Schüler schwer. "Die Täter hatten keinen Grund, das zu tun", sagt der Ex-Kindersoldat. "Sie hatten die Wahl. Und es ist eine schlechte Entscheidung, Probleme machen zu wollen."

Für Samuel ist Musik der Weg, seine Erfahrungen zu verarbeiten - als Rapper unter dem Pseudonym Kindoc. "Ich kann meine Gefühle so am besten ausdrücken", sagt er. Das sei schon immer so gewesen. Seine Texte behandeln die Liebe und das Leben, aber auch Afrika und seine Vergangenheit. Zum Beispiel das Lied "Angolano", in dem es heißt: "Ich bin Angolaner mit Wurzel und Herz, Kind von der schwarzen Mutter, mit AK 47 in der linken Hand und Bleistift in der rechten."

Heute hält die linke Hand häufiger das Mikrofon. In den nächsten Tagen wird Samuel in Augsburg und am 11. November, dem Unabhängigkeitstag Angolas, in München auftreten. Vielleicht wird ihn die Musik ja eines Tages auch in "sein Land" zurück bringen. "Mir fehlen die Farben, das Bunte hier sehr", sagt Samuel. "Und natürlich auch meine Familie." Irgendwann wolle er einmal wieder nach Angola und an Ort und Stelle nach seinen Verwandten suchen. Vielleicht wird er dann ein neues Angola kennen lernen. Die Erinnerungen an das Land, aus dem er einst floh, werde er nie löschen können. Da ist er sich sicher.

© SZ vom 05.10.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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