Essstörungen bei Mädchen:Kinder im Schlankheitswahn

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Patientinnen mit Essstörungen werden immer jünger. Jedes dritte Mädchen zwischen 11 und 17 Jahren zeigt mittlerweile Ansätze zu Magersucht oder Bulimie. Ein Gespräch mit Expertin Karin Lachenmeir.

Anne Goebel

Lebensbedrohliches Hungern, Wechsel zwischen Fressattacken und Erbrechen: Essstörungen sind erschreckend verbreitet unter jungen Menschen, die meisten Patienten sind weiblich - und werden immer jünger. Jedes dritte Mädchen zwischen 11 und 17 Jahren zeigt mittlerweile Ansätze zu Magersucht oder Bulimie, so eine aktuelle Studie des Robert-Koch-Instituts. Ein Gespräch mit Karin Lachenmeir, Leiterin des Therapie-Centrums für Essstörungen am Klinikum Dritter Orden.

Karin Lachenmeir, Leiterin des Therapie-Centrums für Essstörungen am Klinikum Dritter Orden. (Foto: Foto: oh)

SZ: Sogar Zehnjährige erkranken an Essstörungen - woran können Eltern erkennen, ob Ihr Kind betroffen ist?

Karin Lachenmeir: Probleme mit dem Essen sind bei Kindern in gewissen Phasen nicht selten. Dass sie zwischenzeitlich heikel sind, manche Dinge nicht mögen, muss nicht in eine Krankheit münden. Wirklich relevant wird das in dem Alter, in dem das Essen in Zusammenhang gebracht wird mit der Figur, der eigenen Körperwahrnehmung. Also mit acht, neun Jahren frühestens.

SZ: Mädchen, die mit acht über ihre Figur nachdenken?

Lachenmeir: Ja, in diesem Alter beginnen sich Kinder als soziales Objekt zu sehen. Ihnen wird klar, dass sie von außen wahrgenommen werden, dass andere auf sie schauen, und sie fragen sich: Wie wirke ich? Und wenn sie unzufrieden mit sich sind, kommt die Frage: Sollte ich vielleicht abnehmen?

SZ: Setzen diese Selbstwahrnehmung und mögliche Störungen heute eher ein als früher?

Lachenmeir: Ganz klar ja. Unser Eindruck ist, und die wissenschaftliche Literatur deutet auch darauf hin: Die Betroffenen werden immer jünger. Figur, schlank sein, das bekommt in immer jüngerem Lebensalter Relevanz. Schon bei Zehnjährigen heißt es in der Pause: Was wiegst du? Nicht wenige haben in dem Alter bereits ihre ersten Diäterfahrungen.

SZ: Weil sie dem omnipräsenten Schlankheitsdiktat hinterherhungern?

Lachenmeir: Das westliche Schönheitsideal und die Medien, die es permanent verbreiten, spielen nach unserer Erfahrung eine eher indirekte Rolle. Gerade bei den ganz jungen Patientinnen ist die Familie einer der Hauptfaktoren. Da kursiert schon mal eine Zeitschrift auf dem Schulhof, und die Mädchen sagen, so dünn will ich später auch sein. Aber entscheidender ist, wenn zuhause Diäten oft ein Thema sind, der Schlankheitswahn sozusagen über die Familienebene transportiert wird. Wenn der Vater ständig die Figur der Mutter kritisiert und sagt: Nimm' mal ab. Oder wenn die Eltern etwas pummeligen Kindern zu verstehen geben: Jetzt musst du langsam aufpassen.

SZ: Andererseits ist Übergewicht bei Kindern ein wachsendes Problem.

Lachenmeir:Das ist oft ein Drahtseilakt, ja. Aber entscheidend ist ein Aspekt: Die Kinder müssen das Gefühl haben, dass ihr Wert nicht von ihrem Gewicht abhängt. Da sollten die Eltern zweigleisig fahren. Das eine ist die gesündere Ernährung. Das andere die Sicherheit für das Kind: Ich bin wichtig und wertvoll, egal, wieviel ich wiege.

SZ:Geht es bei einer Essstörung auch um fehlende Aufmerksamkeit?

Lachenmeir:Das ist ein wichtiger Aspekt, ja. Diese Krankheitsformen haben viele Ursachen, der familiäre Hintergrund ist eine davon, erbliche Faktoren und individuelle Persönlichkeitszüge, zum Beispiel ein hohes Leistungsstreben bei Magersüchtigen, spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Genauso vielfältig sind die Bedürfnisse und Emotionen, die über die Krankheit kompensiert werden. Es kann um fehlende Aufmerksamkeit gehen, um versteckte Aggressionen gegen die Eltern, deren Einfluss man sich durch die Verweigerung von Essen entzieht. In der Pubertät mit all den Veränderungen empfinden Jugendliche ihr Umfeld oft als unsichere Welt, in der die Essstörung vermeintliche Sicherheit bietet: Das Essen, die Kalorien habe ich im Griff. Gefühle wie Frust oder Überforderung verebben, die Essstörung ist wie eine Schutzhülle zwischen sich und der Welt - das beschreiben unsere Patienten oft.

SZ: Wie helfen Sie Ihren Patienten?

Lachenmeir: Ganz wichtig ist, wieder klare Essstrukturen zu lernen, das heißt, welche Mengen gesund und normal sind. In der Familientherapie werden begleitend Konflikte ausgelotet und behandelt. Und in der Verhaltenstherapie trainieren wir mit den Betroffenen Übungen, die ihnen helfen sollen, mit Problemen auf andere Art umzugehen als mit gestörtem Essverhalten.

© SZ vom 13.10.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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