Es geht ums Ganze:Wunderer im Rätseluniversum

Es geht ums Ganze: Wer schaut sich schon im Netz einen 90-minütigen Vortrag über Astrophysik an? Trotz negativer Prognosen legte Josef M. Gaßner einfach los.

Wer schaut sich schon im Netz einen 90-minütigen Vortrag über Astrophysik an? Trotz negativer Prognosen legte Josef M. Gaßner einfach los.

(Foto: Marco Einfeldt)

Der Astrophysiker, Mathematiker, Kosmologe und Grundlagenforscher Josef M. Gaßner ist ein Meister darin, komplexe Erkenntnisse ganz einfach und verständlich zu erklären - deshalb sehen so viele seinen Web-Kanal. Er sucht in seiner Forschung nach einer Antwort auf die Frage: Wie funktioniert diese Welt?

Von Wolfgang Görl

Die Welt ist voller Rätsel, und sollte es ein höheres Wesen geben, das dies alles geschaffen hat, müsste sich Josef M. Gaßner bei jenem Schöpfer bedanken. "Gut gemacht", müsste er sagen, "ein herzliches ,Vergelt's Gott' für die vielen tollen Geheimnisse." Schon als junger Mensch hatten ihn Rätsel fasziniert, vor allem solche, welche die Mathematik aufgab, die, wie er heute sagt, "eine große Spielwiese für Rätsel ist". Später hat er die Spielwiese gewechselt, ist gewissermaßen herausgetreten aus der in sich geschlossenen Welt der Zahlen in den unermesslichen Raum des Universums, wo Planeten um Sterne kreisen und Myriaden Galaxien wie in wilder Flucht das Weite suchen, einsame Inseln in trostloser Leere und, so riesig sie auch sein mögen, zusammengesetzt aus winzigsten Teilchen, die sich jeder sinnlichen Wahrnehmung entziehen. Bei allem Respekt vor der Mathematik: Dort, im All, so dämmerte es Gaßner, lauern noch aufregendere Fragen. "Es gibt interessante Rätsel, und es gibt relevante Rätsel", sagt er. "Die relevanten spielen sich nicht in der Mathematik ab, sondern in der Physik." Es geht um nicht weniger als ums Ganze: "Wie funktioniert diese Welt?"

Das ist die große Frage, eine, die sich womöglich schon die Steinzeitmenschen gestellt haben, nur haben sie andere Antworten gefunden als heutige Naturwissenschaftler. In alten Zeiten waren es Naturgeister, Götter und Dämonen, die die Welt in Gang hielten, doch diese "geheimnisvollen unberechenbaren Mächte" sind, wie der Soziologe Max Weber einst schrieb, vertrieben worden von der wissenschaftlich-technischen Ratio. Die Welt ist entzaubert worden; wo einst Nymphen und Satyrn hausten, regiert heute die kalte Vernunft.

Angesichts dessen ist es überraschend, dass auch auf Gaßners neuer Spielwiese ein Zauber waltet, und zwar insofern, als dort ungeheure Dinge passieren und Kräfte am Werk sind, die mindestens so fantastisch sind wie Götter, die Donner, Blitz und Stürme erzeugen. Josef M. Gaßner ist Mathematiker, Astrophysiker, Kosmologe, Grundlagenforscher, überdies lehrt er an der Landshuter Hochschule für Astronomie und Kosmologie. Und er ist ein Meister in der Kunst, schwierigste naturwissenschaftliche Erkenntnisse in einer Sprache zu vermitteln, die auch normale Menschen verstehen. Darin ist er genauso virtuos wie sein Freund, Kollege und Doktorvater Harald Lesch, der Physikprofessor der Nation, der im Fernsehen den Leuten witzig und dennoch fundiert erklärt, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Vor vier Jahren haben Gaßner und Lesch ein Buch herausgebracht, "Urknall, Weltall und das Leben", und wer es liest, wird zumindest eine Ahnung bekommen, was hinter den hermetischen Formeln der Relativitätstheorie oder der Quantenmechanik steckt. Es ist, quasi in sokratischer Tradition, in Dialogform geschrieben, ein Gespräch über Urknall, Higgsteilchen, Dunkle Materie und vieles mehr, an dem der Leser wie ein Lauscher am Nachbartisch teilnimmt. Gegen Ende wird er vernehmen, wie Gaßner und Lesch nach ihrer gedanklichen Reise durch Raum und Zeit tatsächlich auf Gott zu sprechen kommen, sich aber gleich für nicht zuständig erklären: "Naturwissenschaftler", sagt Gaßner, "sind Innenarchitekten im Kosmos. Wir beobachten, vermessen und erforschen das Mobiliar. Über einen möglichen Erbauer des Gebäudes oder gar dessen Intentionen wissen wir nichts."

Der Innenarchitekt Gaßner sitzt bei einem Glas Wasser auf der Terrasse seines Hauses in Ergolding bei Landshut. Mit seiner Frau Sonja ist er vor 14 Jahren hierher gezogen, vertrieben von Stechmückenschwärmen, die das Leben in Gaßners Elternhaus in den Isarauen vermiest hatten. Und jetzt, da Gaßner, geboren 1966 in Landshut, von seiner Kindheit erzählt, von der Mutter, die als Sekretärin im Pfarramt arbeitete, und dem Vater, der Heizöl ausfuhr, ist es, als würde ein alter Bekannter sprechen. Der gemäßigt niederbayerische Ton, die Mimik, irgendwo zwischen Staunen und Begeisterung - so kennt man ihn von seinen Videos, mit denen er die komplizierten Inhalte der moderner Forschung in Umlauf bringt. Auf seinem Youtube-Kanal - er heißt, wie das Buch, "Urknall, Weltall und das Leben" - erklärt er beispielsweise, wie unser Sonnensystem, wie Erde, Mond und Ozeane entstanden sind, oder er plaudert mit Lesch, was es mit Stringtheorien oder der Schleifenquantengravitation auf sich hat. Fasslich soll es sein, verständlich, wenn möglich auch anschaulich, aber stets so exakt, dass selbst Experten nichts zu meckern hätten.

Wenn es etwa darum geht, die expandierende Raumzeit zu erklären, bringt Gaßner ein virtuelles elastisches Tuch ins Spiel, zieht daran, und die darauf verstreuten Kugeln, die Galaxien, driften auseinander, und zwar umso schneller, je weiter sie vom Beobachter entfernt sind. Das leuchtet ein, auch wenn einem die einschlägigen Rechenmodelle böhmische Dörfer sind.

Dennoch ist es eine schwierige Materie, man muss seinen Kopf schon anstrengen, um so einem eineinhalbstündigen Vortrag folgen zu können. Aber Wissenschaftsquickies für Eilige gibt es bei Gaßner nicht: "Man kann den Urknall nicht in acht Minuten erklären, das wäre Schwachsinn." Komplexe Monologe im Internet, wo Schminktipps und Katzenvideos die Renner sind - puh, geht das überhaupt? Wer schaut sich schon im Netz einen 90-minütigen Vortrag über Astrophysik an? Keiner, prophezeiten alle, die sich mit der Netzwelt auskennen. Gaßner war's egal, er legte einfach los. Mittlerweile verzeichnet sein Wissenschaftskanal mehr als sieben Millionen Klicks.

Wer so viel über das Weltall weiß, wer aus dem Licht unendlich ferner Galaxien deren Geschwindigkeit oder Zusammensetzung errechnen kann, der hat, so denkt man, bestimmt ein Fernrohr im Haus. Hat er aber nicht. Gaßner ist kein Sterngucker, er ist theoretischer Astrophysiker, der das Universum rechnend mit Bleistift und Papier ergründet. "Es ist ein enormer Aufwand mit vielen Irrungen und Wirrungen", sagt er. "Mathematik besteht darin, viele Blätter vollzuschreiben und in den Papierkorb zu werfen. Nur wenige überstehen diesen Prozess." Da ist sie wieder, die Mathematik. "Sie war immer mein Ding. Das hat Platz in meinem Hirn, das war immer rund." Als Kind, erinnert er sich, hat er unentwegt Schach gespielt, auf den 64 Feldern "war die Welt geregelt". Er hatte einen umständlichen Heimweg von der Schule, und um sich die Zeit bis zum Bus zu vertreiben, spielte er in der Elektronikabteilung eines Kaufhauses simultan gegen alle dort ausgestellten Schachcomputer. Und, klar, die Elektronenhirne hatten keine Chance.

Dessen ungeachtet war er von Computern fasziniert. Für ihn sind die Dinger einfach, weil sie berechenbar sind, "während die zwischenmenschlichen Sachen immer wahnsinnig schwierig waren". Als er nach dem Mathematikstudium zu einem Praktikum bei Texas Instruments in Freising antrat, war die digitale Technik noch ziemlich unausgereift und somit gerade recht für kreative Menschen wie Gaßner, der bald die knifflige Aufgabe hatte, ein großes komplexes Programm auf einem kleinen Taschenrechner zum Laufen zu bringen. Gaßner hat das hingekriegt und dann rasch Karriere gemacht. "Da hab' ich unglaublich gut verdient, das waren Goldgräberzeiten." So hätte es weitergehen können. Doch dort, wo er auf der Karriereleiter angelangt war, fand er's öde. Ausgaben zu verwalten, Kunden zu besuchen, all diese Chefsachen waren gar nicht seine Welt. Und die Rätsel lösten nun andere. "Ich war rausqualifiziert aus dem interessanten Bereich." Gaßner drückte die Reset-Taste.

Der junge Mann überlegte noch mal. Was ist wirklich relevant? Die Physik! "Da hat es mit dieser Welt zu tun. Da hat es mit mir zu tun." In seinem Hirn hatte sich ein Rätselstau gebildet, der nach Auflösung drängte: "Da gibt's die Lichtgeschwindigkeit, 3 mal 10⁸ Meter pro Sekunde. Und bei mir war immer diese Frage: Warum? Was ist an 3 mal 10⁸ anders als an 4? Warum ist das Plank'sche Wirkungsquantum 6,6 mal 10-³⁴ Joulesekunden? Warum ist es nicht 7,6 mal 10-³⁴ Joulesekunden? Was ist anders an dieser Zahl?" Gewaltige Rätsel, die sich da aufdrängten und Gaßner förmlich aufforderten, Physik zu studieren. Also schrieb er sich an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität ein.

Was er dort fand, war - lange sucht er nach dem richtigen Wort - "anders". "Mathematik ist eine ganz klar strukturierte Sache, Physik aber ist irgendwie schmutzig." Der Physiker muss kalkulierte Fehler in Kauf nehmen, um am Ende mit einer möglichst blitzblanken Theorie dazustehen. In diesem Schmutz wollte nun auch Gaßner wühlen, in der Hoffnung, "das Rätsel Welt zu knacken". Während des Studiums ist er mehr oder weniger zufällig über Harald Lesch gestolpert, der in München am Lehrstuhl für Astronomie und Astrophysik forscht. "So bin ich dann in die Astronomie hineingerutscht."

In seiner Diplomarbeit hat sich Gaßner mit den Fragen beschäftigt, die ihn schon früher gepiesackt hatten: Warum sind die Naturkonstanten so, wie sie sind? Die Antwort ist verdammt kompliziert, schwer zu kapieren für einen Laien und läuft, in gewiss unzulässiger Verkürzung, etwa darauf hinaus: Die Kräfte im Universum sind aufs Feinste justiert, würde nur eine Konstante geringfügig abweichen, wären die Welt, so wie sie ist, und das Leben nicht möglich - und es gäbe auch keinen Beobachter, den dies in Erstaunen versetzte. Offensichtlich aber gibt es solche Wunderer.

Gaßner ist so einer, er brennt geradezu vor Leidenschaft für sein Rätseluniversum. Schweiß bildet sich auf seiner Stirn, der kommt nicht nur von der Ergoldinger Nachmittagssonne. "Wenn ich von Naturwissenschaften erzähle, fang ich an zu schwitzen. Es ist unglaublich spannend." Spannend auch, weil so vieles noch ungeklärt ist. "Wenn ich unser naturwissenschaftliches Weltbild betrachte, dann ist es glasklar, dass es falsch ist. Es ist nur verdammt gut falsch." Da ist zum Beispiel die Quantenmechanik, die gut funktioniert, wenn es gilt, die Welt der allerkleinsten Teilchen zu beschreiben; oder da ist die Allgemeine Relativitätstheorie, die erfolgreich ist, wenn es um sehr hohe Energien geht. Doch dort, wo sie sich überlappen, knirscht es. Das passt noch nicht. Die Theorien schadlos zusammenzuführen, würde neue Horizonte eröffnen. Aber noch hat niemand den richtigen Dreh gefunden. Die Physik bleibt weiterhin schmutzig.

Gaßner hat ohnehin andere Prioritäten: "Die Vereinigung von Quantenmechanik und Allgemeiner Relativitätstheorie wäre interessant, für mich als Mensch, als Lebensform auf diesen Planeten, ist aber die Frage relevanter: Was ist das Leben? Sind wir allein da draußen? Oder macht sich irgendjemand im All dieselben Gedanken wie wir?" Und - das fragt er sich immer wieder - stimmt die Annahme, die Natur habe sich mit dem Menschen einen Luxus erlaubt, weil er mehr kann als notwendig. Das leistungsfähige Gehirn - nur eine Laune der Natur? Gaßner zweifelt daran. In seinem Buch sagt er: "Vielleicht ist es ja evolutionär gar kein Zufall, dass wir über Gehirne verfügen, die uns all diese Erkenntnisse ermöglichen. Vielleicht ist Demut gegenüber unserer Welt und Achtsamkeit im Umgang mit den vielfältigen Lebensformen darin sogar dringend notwendig, um als Spezies langfristig zu überleben." Nicht zuletzt deshalb bringt er die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, auch wenn Kollegen gelegentlich die Nase rümpfen, per Youtube unter die Leute: Damit sie begreifen, wie wunderbar das Phänomen Leben ist, diese unglaubliche Metamorphose toter Materie in lebendige Organismen. Und wer das weiß, der wird, so die Hoffnung, darauf achten, dass es erhalten bleibt.

Gaßner, der behauptet, er sei ein "Nerd", mithin ein sozial inkompetenter Technikfreak, zieht plötzlich einen "Snapy" hervor, einen Insektenfänger, der das Leben der Gefangenen schont. Dass er sich den zugelegt hat, ist ebenfalls eine Folge seiner Beschäftigung mit dem Universum und dem Leben. Früher, erzählt er, war er ein Spinnentotschläger. Keine Spinne hat in seiner Gegenwart lange überlebt. "Das wäre jetzt absolut undenkbar für mich. Heute bin ich ein Spinnenrausträger."

Wie schön wäre es, käme in diesem Augenblick eine Spinne angekrabbelt. Aber es kommt keine. Das Leben ist unberechenbar.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: