Erding:Der Dämon im Spiegel

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Seit 30 Jahren gibt es die Anonymen Alkoholiker in Erding. Der Gründer der Gruppe kämpfte Jahrzehnte lang mit seiner Sucht. Heute unterstützt er andere dabei, sich selbst zu finden

Von Robert Gast

Nach ein paar Bier fühlte sich Sepp stets als Mittelpunkt der Welt. In seiner Jugend galt das Trinken nicht als verwerflich, erinnert sich der 87-jährige Niederbayer. Im Gegenteil: "Dummheit frisst, Intelligenz säuft", hätten die Menschen damals gesagt. "Und ich wollte doch so gerne intelligent sein."

Erst 30 Jahre später habe er gemerkt, dass der Spruch nicht stimmt. An einem verregneten Oktoberabend sitzt Sepp im großen Saal des Evangelischen Gemeindezentrums Erding und erzählt. Von seinem Leben als Alkoholiker. Und davon, wie er Frieden mit seiner Krankheit schloss. Um ihn herum haben sich sieben Männer und vier Frauen versammelt, die diesen Punkt zum Teil noch vor sich haben. Einmal die Woche treffen sie sich und reden über ihre Sucht, über Fortschritte und Rückfälle.

Für Alkoholiker bleibt der Griff zum Weinglas ein Leben lang tabu. Selbst wer Jahrzehnte lang trocken ist, kann noch einen Rückfall erleben. (Foto: imago stock&people)

Am Samstag feiert die Erdinger Gruppe der Anonymen Alkoholiker (AA) ihr 30-jähriges Bestehen. Ihren Ursprung hat die Bewegung im Amerika der 1930er Jahre. Damals ersannen ein Chirurg und ein Börsenmakler einen Plan aus zwölf Schritten, mit dem sie ihre Alkoholsucht überwinden wollten. Vor 60 Jahren fassten die AA in Deutschland Fuß, heute wird die Zahl ihrer Anhänger in der Bundesrepublik auf 25 000 geschätzt - zwei Prozent der Alkoholsüchtigen hierzulande.

Trotz Selbsthilfegruppe glich ihr Leben einem Voodoo-Tanz um die Flasche

In Erding sind vor allem Männer und Frauen zwischen 40 und 60 ins Evangelische Gemeindezentrum gekommen. "Leider haben wir nicht mehr so großen Zulauf", sagt Sandra*. Sie ist eine stilvoll gekleidete Frau um die 40, mit energischen Gesten und einem offenen Lachen. Nachdem sich alle Mitglieder begrüßt haben, mal per Handschlag, mal per Umarmung, läutet Sandra ein kleines Glöckchen. Dann liest sie aus der "Präambel" der AA vor, dem Selbstverständnis der Gruppe: "Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit ist der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören", steht darin. Aber auch, dass die Anonymen Alkoholiker mit keiner Sekte oder Konfession verbunden sind.

Doch die AA-Treffen haben Rituale - und oft eine spirituelle Stimmung. Auf dem langen Tisch im großen Saal des Gemeindezentrums flackern zwei Kerzen. Nur die Monologe der Teilnehmer heben sich aus der trägen Stille, ein paar mal rauscht draußen dumpf ein Auto vorbei. Deutlich hörbar hallt das Kratzen des Kugelschreibers des Reporters von den holzvertäfelten Wänden. In der Sitzung soll diesmal der fünfte der zwölf Schritte diskutiert werden: Fehler gegenüber sich selbst und anderen eingestehen.

Als Sepp seine spätere Frau Hermine kennenlernt, kann er seine Sucht noch gut verstecken - die Verliebten sehen sich nur am Wochenende. "Aber als wir geheiratet haben, hat sie es gleich gemerkt", sagt der 87-Jährige und gießt mit unsicheren Händen Früchtetee aus seiner Thermoskanne. Sepp ist ein kleiner, knöcherner Mann mit strengen Gesichtszügen, aber freundlichen blauen Augen. In München hat er lange in der Medienbranche gearbeitet. In seinem Job sei er unkündbar gewesen, erzählt er - was einerseits verhinderte, dass er wie viele andere Alkoholiker wegen seiner Sucht arbeitslos wurde. "Aber so konnte ich mich fast totsaufen."

Auch bei den anderen Teilnehmern eskalierte das Trinken irgendwann. Anna* zum Beispiel griff zur Flasche, weil sie fehlerfrei sein wollte - und dann Trost dafür suchte, dass sie Fehler machte. Oft sei sie morgens kotzend über der Kloschüssel aufgewacht, sagt sie. Aber auch während ihrer ersten Jahre bei den AA erlitt sie noch häufig Rückfälle. "Mein Leben glich einem Voodoo-Tanz um die Flasche." Für viele der AA bleiben Bier, Wein und Schnaps ein Leben lang eine Gefahr. Selbst nach einer kurzen Kostprobe droht ein Rückfall.

Wissenschaftler konnten bisher nicht eindeutig klären, wie erfolgreich das 12-Schritte-Programm tatsächlich ist. Eine große Metastudie der Cochrane Collaboration erbrachte 2006 keinen Nachweis, dass die Selbsthilfegruppe Süchtigen hilft. Weil Alkoholiker nur anonym an den Sitzungen teilnehmen und nur ein bestimmter Teil der Betroffenen den Weg zu den AA findet, gelten derartige Untersuchungen aber als sehr schwierig.

Die Erdinger Alkoholiker machen sich keine Illusionen. "Die Krankheit ist unheilbar", sagt Sepp. Hunderte Erdinger hätten in den vergangenen Jahren an ein paar Sitzungen teilgenommen, seien dann aber nicht wieder gekommen. Für Sepp ist das ein Fehler: "Bei den AA geht es um mehr als Entzug." Das haben alle regelmäßigen Teilnehmer erkannt. Für viele sind die wöchentlichen Treffen die einzige Gelegenheit, über ihre Sucht zu reden. Für Sepp war in den vergangenen Jahrzehnten noch etwas anderes sehr wichtig: "Man muss wieder lernen, mit Mitmenschen umzugehen", sagt er. Für ihn hatte immer jemand anderes Schuld, wenn er zur Flasche griff: Der Chef, seine Frau - oder ein Autofahrer, der ihm die Vorfahrt genommen hatte.

Mit den Jahren schimpft Hermine immer häufiger mit Sepp. Aber erst nach 18 Uhr, wenn ihre zwei Töchter aus dem Wohnzimmer verschwunden sind. Die Eltern denken, die Kinder würden nichts von Sepps Trinkerei mitbekommen. Irgendwann finden die Töchter aber die leeren Schnaps- und Bierflaschen im Keller. "Es war ein Fehler, die Krankheit so lange zu leugnen", sagt Sepp heute. Eine seiner Töchter entwickelte später als Erwachsene selbst ein Drogenproblem.

Eines Tages bricht Sepp zusammen und muss ins Krankenhaus. Der behandelnde Arzt sagt: "Ich geb' ihm noch ein Vierteljahr." Für Sepp ist das der Wendepunkt. Mit viel Bammel geht er 1975 zu einer Sitzung der Münchner AA. Bei der ersten Vorstellungsrunde redet er sein Alkohol-Problem klein. Aber die Gruppe schickt ihn nicht weg. In dieser Zeit habe er verinnerlicht: "Du bist für dich selbst zuständig."

Sepps Frau hat in Erding eine Selbsthilfegruppe für die Angehörigen etabliert

Seitdem ist Sepp trocken. Vor 30 Jahren fragte man ihn, ob er in Erding eine AA-Gruppe aufbauen wolle. Sepp und seine Frau wurden zu "Adam und Eva" der Erdinger AA, wie Anna sagt. Noch heute reist das alte Ehepaar jede Woche mit dem Auto aus München an. Hermine hat vor 30 Jahren den AA-Ableger Al-Anon nach Erding gebracht, eine Selbsthilfegruppe für Angehörige. "Alkoholismus ist oft eine Familienkrankheit", sagt sie wohlwissend.

In seinen ersten Jahren bei den AA hat Sepp mit anderen Mitgliedern enge Freundschaften geschlossen, Bergtouren gemacht. Doch das Gebot der Anonymität ist den Teilnehmern in Erding sehr wichtig: Nur von wenigen Leuten der jetzigen Gruppe kennt Sepp den Beruf - und das auch nur, wenn sie davon während einer Sitzung erzählt haben. Am Ende des Treffens fassen sich alle an den Händen und sagen einstimmig einen Spruch auf: "Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann."

Für Sepp und seine Frau sind die AA zu einer zweiten Familie geworden. Vor einigen Jahren hätten sie ihre Goldene Hochzeit auf einem der Treffen gefeiert, erzählt Sepp, bevor er mit Hermine im Regen verschwindet. "Ich habe bei den Anonymen Alkoholikern das Leben gefunden, das ich mir im Suff erträumt habe."

*Namen von der Redaktion geändert

© SZ vom 25.10.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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